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Hexenkind

Hexenkind

Titel: Hexenkind
Autoren: Sabine Thiesler
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drehte – sowie Sarah einen Moment nicht aufpasste – den Ton so ohrenbetäubend laut, dass das Gerät vibrierte.
    Sarah ging mit ihr zum Ohrenarzt, weil sie eine Schwerhörigkeit vermutete, aber Elsas Gehör war völlig in Ordnung. Hyperaktiv nannten die Ärzte das, von Aggression wollten sie in diesem Alter noch nicht sprechen.
    Sarah verzweifelte. Sie wusste mit diesem Kind nicht mehr ein noch aus und war mit den Nerven am Ende. Heftige Kopfschmerzattacken überfielen sie immer häufiger.
Dann lag sie in ihrem Zimmer und hörte das entsetzliche Wutgebrüll, das stundenlang anhalten konnte. Selbst wenn sie alle Türen schloss, konnte sie ihm nicht entgehen, es drang in den entlegensten Winkel der Wohnung. Sarah war mittlerweile so depressiv, dass sie davon träumte, schachtelweise Tabletten zu schlucken, nur um diesem Kind und diesem Horror zu entgehen.
    »Wir müssen sie fesseln und knebeln und ein paar Stunden auf den Balkon stellen«, hatte Franky gesagt. »Dann haben wir Ruhe.« Sarah hatte ihn daraufhin entsetzt angestarrt, weil sie einfach nicht wusste, ob er es ernst meinte oder einen Scherz machte.
    Es begann leicht zu nieseln. Sarah schaltete den Scheibenwischer ein, der auf der Scheibe schmierte. Sie fluchte leise, fuhr die Clayallee hinunter in Richtung Zehlendorf, wo ihre Eltern wohnten. Kurz nach dem Roseneck hatte Elsa endlich aufgehört zu plärren und schlug jetzt pausenlos mit einer Straßenkarte gegen das Autofenster.
    »Hör doch mal fünf Minuten auf!«, flehte Sarah. »Kannst du denn nicht mal eine Sekunde stillsitzen?«
    Elsa antwortete nicht, und das rhythmische Klatschen ging weiter. Elsa antwortete eigentlich grundsätzlich nicht, wenn man sie irgendetwas fragte, sie tat auch nie das, was man von ihr wollte, sie grinste nur und machte stur das, was ihr gerade einfiel und was immer mit Krach verbunden war. Es half nicht, ihr die Gegenstände wegzunehmen, die sie benutzte, oder ihr eine runterzuhauen, weil man damit nur das Gebrüll heraufbeschwor, das Stunden anhalten konnte. Sie muss eine Lunge haben wie ein Pferd, dachte Sarah.
    Sie bog in eine schmale Wohnstraße ein, an deren Ende ihre Eltern in einem gepflegten Einfamilienhaus wohnten,
mit Geranien vor den Fenstern und einem englischen Rasen, in dessen Mitte eine achtzig Zentimeter hohe niederländische bunte Mühle festgeschraubt war.
    Elsa brüllte, als der Wagen vor dem Haus hielt. Sarah stieg aus, knallte die Wagentür zu und lief die paar Schritte zum Gartenzaun. Als sie auf den Klingelknopf drückte, ging fast gleichzeitig im ersten Stock das Fenster auf, und ihre Mutter guckte heraus.
    »Ach, Sarah«, sagte sie. »Du bist’s. Komm rein!«
    Als Sarah mit Elsa an der Hand ins Wohnzimmer kam, umarmte sie ihren Vater, der einen leichten Hausmantel trug, und setzte sich mit Elsa ihren Eltern gegenüber auf die Couch.
    »Mein Gott«, sagte ihre Mutter, »das seh ich ja erst jetzt! Was ist denn mit deinem Gesicht passiert?«
    »Das war der liebe Franky«, antwortete Sarah zynisch. »Er ist mal wieder vollkommen ausgetickt.«
    Regine nickte. Damit war das Thema für sie bereits beendet.
    »Möchtest du was essen, Schätzelchen?«, fragte sie ihre Enkelin.
    Elsa schüttelte einfach nur den Kopf und betrachtete ihre Fäuste. Sarah spürte eine leichte Panik in sich aufsteigen, weil Elsa so gefährlich ruhig war. Wenn dieser Zustand länger als eine halbe Stunde andauerte, stand meist eine Explosion bevor.
    Regine sprang auf und rannte in die Küche. »Sie will nichts essen, Mama«, brüllte Sarah ihr hinterher. »Sie hat doch den Kopf geschüttelt! Lass es!«
    »Eine Kleinigkeit hat die liebe Oma immer für ihr Herzchen«, tönte Regine aus der Küche, und Sarah seufzte.

    »Was gibt’s Neues?«, fragte Herbert seine Tochter und stopfte sich eine Pfeife. »Du kommst doch sicher nicht ohne Grund. Hat es mit Franky, ich meine …«, er räusperte sich, »hat es mit deinem Gesicht zu tun?«
    »Ja, das hat es.« Sarah rieb sich die Stirn und überlegte, wie sie mit dem schwierigen Thema am besten anfangen könnte, als Regine mit einem Kompottschälchen, in dem kleine Aprikosenstückchen in Soße schwammen, aus der Küche kam und es Elsa auf den Schoß stellte.
    »Hier mein Spatz. Lass es dir schmecken.«
    Und dann ging alles sehr schnell. Elsa nahm das Schälchen und warf es samt Inhalt im hohen Bogen hinter sich. Das Schälchen traf an der Wand einen wertvollen Druck, der die Schlacht von Waterloo darstellte. Der gläserne Bildträger
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