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Heute schon geträumt

Heute schon geträumt

Titel: Heute schon geträumt
Autoren: Alexandra Potter
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Standbesitzer, ein alter Mann mit einer Baskenmütze und einer Gauloises, die ihm an der Unterlippe klebt, lächelt mich an, als sei ich Muttersprachlerin. Und gerade als ich denke, mein Akzent und meine Kenntnisse seien vielleicht doch nicht ganz so miserabel, feuert er eine Wortsalve auf mich ab, die mich völlig aus der Bahn wirft.
    »Äh …« Ich krame eine Fünf-Euro-Note aus der Tasche und wedle hoffnungsvoll damit. »Ist das okay?«
    Na gut, ich gebe ein bisschen an und versuche, meine Sätze französisch klingen zu lassen, indem ich am Ende die Stimme hebe, aber damit kann ich niemanden täuschen. Aber diese herrlichen Ohrringe muss ich einfach haben.
    Der Standbesitzer lächelt, nimmt mir den Geldschein aus der Hand und reicht mir das Wechselgeld und die Ohrringe, begleitet von viel Nicken und Lächeln. Na also, am Ende sprechen wir doch alle dieselbe Sprache, denke ich glücklich, als ich die Ohrringe anlege und vor dem Spiegel vorsichtig den Kopf schüttle. Sie baumeln hin und her, wobei die Silberglieder und die rosa Glassteinchen herrlich in der hellen Junisonne funkeln.Tausendmal besser als Perlenohrringe, denke ich mit einem Anflug von Befriedigung.
    Ich winke dem Standbesitzer zum Abschied zu, sage Au revoir (das beherrsche ich mittlerweile erstklassig) und bahne mir einen Weg durch das Gewirr aus Ständen - wo es alles gibt, von üppigen Schmuckstücken über Vintage-Klamotten bis hin zu Handtaschen in allen erdenklichen Formen, Farben und Spielarten. Meine Güte, das ist der tollste  Flohmarkt, den ich je besucht habe. Ich konsultiere meinen Reiseführer. »Der berühmteste Flohmarkt in Paris ist der an der Porte de Clignancourt, der offiziell den Namen Les Puces de Saint-Ouen trägt, von allen aber nur ›Les Puces‹, also ›Die Flöhe‹ genannt wird.«
    »Les Puces«, widerhole ich und atme tief die Düfte ein, die den Ständen entströmen - köstlich, süß, nach mit Zucker bestreuten Crêpes, herrlichen Croques Monsieur und frisch zubereitetem café au lait. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Mmm, ist es schon Zeit fürs Mittagessen?, überlege ich und schlendere von Stand zu Stand, wie eine Biene, die an einer köstlichen Blüte nach der anderen Halt macht.
    Früher hätte ich genau gewusst, wie spät es ist, hätte bereits hundert Mal an diesem Tag auf die Uhr gesehen, aber heute trage ich gar keine Uhr mehr. Und die auf meinem Handy kommt auch nicht in Frage, weil ich es im Hotel habe liegen lassen, überlege ich, als mir ein himbeerfarbenes Seidenkleid ins Auge sticht. Ich bin vollständig von der Kommunikation abgeschnitten, und es fühlt sich toll an. Kein Telefon, das läutet. Kein BlackBerry. Keine Mail. Ich kann mich mehrere Minuten in Ruhe unterhalten, ohne unterbrochen zu werden.
    Wenn auch vielleicht nicht auf Französisch, sinniere ich und gebe der Standbesitzerin mit Händen und Füßen zu verstehen, dass ich eine andere Größe brauche.
    Aber in letzter Zeit habe ich sowieso mein Handy nicht mehr ständig bei mir. Das ist auch nicht nötig, seit ich Beatrice zu meiner Partnerin gemacht und ihr volle Verfügungsgewalt über die Agentur gegeben habe. Ehrlich gesagt wünschte ich, das wäre mir schon früher eingefallen. Sie ist ein echtes Naturtalent und hat Mitarbeiter eingestellt, ein anderes Büro angemietet und mehr Kunden an Land gezogen. Das Geschäft läuft besser als je zuvor.
    Und ich? Tja, ich habe mir ein Jahr Auszeit genommen, um meinen Roman zu Ende zu schreiben. Und ich habe solchen Spaß daran, dass ich überlege, ob ich danach nicht einen zweiten schreiben soll. Oder mich an einer Kurzgeschichte versuchen. Oder gar an einem Drehbuch? Wer weiß. Ich will nicht zu weit vorausplanen. Ich lebe im Hier und Jetzt und widme mich meiner Beschäftigung mit all meiner Leidenschaft. Wann immer sich diese Stimme in meinem Kopf meldet und fragt, ob ich glücklich bin, antworte ich, ohne zu zögern. Ja. Absolut.
    In diesem Moment kehrt die Standbesitzerin mit einem Kleid in einer größeren Größe zurück und reicht es mir lächelnd. Ich halte das Kleid vor mich und betrachte mich im Spiegel.Verschwunden ist die ewig gestresste, glatt geföhnte, stets perfekt zurechtgemachte Frau, die ich früher einmal war.An ihre Stelle ist eine Frau getreten, die ihr Haar an der Luft trocknen lässt, sich auf einen Hauch Lipgloss beschränkt und sich nicht mehr erinnern kann, wann sie das letzte Mal an einem Ekzem gelitten hat. Ich habe in den letzten Monaten auch ein paar Pfund
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