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Heute bin ich blond

Heute bin ich blond

Titel: Heute bin ich blond
Autoren: Sophie van der Stap
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sind vollkommen frei. Die Zweite: Wir haben uns die Aufnahmen noch mal angesehen und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass der Muttertumor nicht an deiner Leber sitzt, sondern zusammen mit dem Rest an der Pleura. Das bedeutet, dass die Tumoren auf den Thorax beschränkt und noch nicht ins rechte Abdomen vorgedrungen sind.«
    Aha.
    »Die Stiche, die du in der Lebergegend spürst, sind ausstrahlender Art. Es handelt sich zwar um eine Metastasierung, aber nicht von Organ zu Organ« – sprich von der Leber in die Lunge –, »und das könnte die Prognose etwas günstiger machen.«
    Stille. Ich kapiere das alles noch nicht richtig. Leber, Knochenmark, Knochen – aber meine Mutter stößt einen schrillen Schrei aus und fängt an zu schluchzen. Stille ade. Allmählich begreife ich, dass das sehr gute Nachrichten sind.
Leber = frei. Leber = frei. Leber = frei.
Aus den düsteren Mienen um mich herum hatte ich schon geschlossen, dass Leberkrebs in der Regel bedeutet, dass man sich schon mal einen Platz auf dem Friedhof reservieren kann. Aber jubeln traue ich mich nicht, denn wer weiß: Demnächst kommt Doktor L. wieder und hat sich die Aufnahmen noch genauer angeschaut.
    »Mit solchen Neuigkeiten kannst du ruhig öfter kommen«, sage ich, als er sich abwendet, um nach seinen anderen Patienten zu sehen.

[home]
    Donnerstag, 17. Februar 2005
    Haare auf dem Kopfkissen, als ich aufwache. Haare in meiner Bürste, mehr als sonst.
    Kummer im Waschbecken.
    Eine Stunde später sitze ich auf einem Stuhl und schaue im Spiegel die Frau an, die hinter mir steht. Fremde Hände in meinen Haaren. Sie fallen aus, immer gleich zu Tausenden. Jede Minute zählt.
    Ich sehe mich nach und nach kahl werden, dabei habe ich mir gestern noch genau wie sonst die Haare gewaschen. Aber das war gestern, und jetzt ist heute. Und heute muss eine Perücke her, so viel ist sicher.
    Es ist schon mein vierter Perückenladen, aber immer noch sehe ich mich unbehaglich um. In den ersten beiden war ich letztes Jahr mit meiner Mutter, als sie Brustkrebs hatte und das gleiche Elend mit Kahlwerden und Perückenanprobieren durchgemacht hat.
    Ungute Erinnerungen an Schaufensterköpfe, Haarschneidemaschinen und, beide Male, an eine Frau, mit der man nicht reden konnte. Meine Mutter hat die Haare immer hochgesteckt getragen. Jetzt sind sie kurz und dunkel. Sie ist zweimal kurz nacheinander operiert worden. Das zweite Mal, weil man doch noch etwas mehr wegschneiden musste. Die mikroskopische Untersuchung ergab, dass eine zweite Operation notwendig war, dazu fünf Wochen Bestrahlung im Antoni-van-Leeuwenhoek-Krankenhaus und eine ambulante Chemotherapie im OLVG .
    Sie hat alles gut überstanden, aber damals war die Sache eine Zeitlang ganz schön spannend. Die Terminologie der Ärzte wurde immer bedrohlicher, von der ersten Operation zur zweiten, von der Bestrahlung zur Chemo. Bei diesem Wort fuhr uns der Schreck in die Glieder. Chemo. Kahl. Tot. Gefühlsmäßig liegt das alles so nahe beieinander. Im selben Raum, in dem meine Mutter ihre Chemo bekam, bekomme ich jetzt meine ambulanten Behandlungen. Die Schwestern kennen uns noch. Der Raum sieht genauso aus wie der bei
Sex and the City
, in der Folge, in der sie zu viert um Samanthas Infusion herumstehen und Fruchteis essen. Nur essen wir kein Fruchteis, sondern Löffelbiskuits.
    Die Frau bringt mehrere Schuhkartons mit allerlei Frisuren darin. Die Perücken werden in geschlossenen Schachteln aufbewahrt und nicht auf weißen Köpfen zur Schau gestellt.
    »Sorry«, sage ich. »Das geht auf einmal so schnell.«
    Die Fotos von mir mit meinen eigenen Haaren liegen auf dem Tisch. Haare auf meinen Schultern und Knien, auf dem Parkett der fremden Frau. Perücken. Guns N’ Roses auf meinem Kopf. Annabel mit ihrem schwarzglänzenden Haar. Zus – sie ist wunderschön. Der Kurzhaarschnitt meiner Mutter, in dem ich immer wieder ein Stück Krebs entdecke. AMC .
    Was tue ich hier?
    Nachbarn, die mich mitleidig ansehen. Gemüsehändler, die mir eine Extratüte Vitamine in den Einkaufskorb packen. Freunde, die mich fest in den Arm nehmen. Meine Familie, die mit mir weint. Mein Mund ein bestürzter Strich. Tränen in meinen Augen, ein fremder Muttchenkopf.
    Drei Wörter: weg, verstecken, Mittelfinger.

[home]
    Samstag, 19. Februar 2005
    »Mensch, du siehst genauso aus wie das Mädchen von Vermeer, du weißt schon, die mit dem Ohrring.«
    Das ist schon viel besser als die Assoziation, die ich habe, wenn ich meinen neuen Kopf sehe. Nach
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