HERZ HINTER DORNEN
dass der Graf von Duncan sie verfolgte. Wenn sie ihn nicht lebensgefährlich verletzt hatte, würde ihn die Wunde nur noch mehr anspornen, die Frau, die ihm diese zugefügt hatte, in seine Gewalt zu bringen. Im Kreise der normannischen Reisegruppe wäre sie vor ihm geschützt. Mit zehn Männern auf einmal würde es auch ein verletzter Schotte nicht aufnehmen wollen.
»Es ist mir eine Ehre, Euch behilflich zu sein«, hörte sie den Seigneur jetzt antworten. »Ihr müsst mir sofort sagen, wenn wir zu schnell sind oder Euch die Folgen dieses Abenteuers zu sehr zusetzen. Herrje, es wäre mir geradezu unangenehm, wenn ...«
»Ich verspreche es Euch, aber Ihr macht Euch zu viele Sorgen«, unterbrach ihn Roselynne sanft.
Die gekünstelt normannische Stimme machte sie zunehmend gereizt. Es war nicht gerecht, dass er ihr Bilder vorgaukelte und diese gleichzeitig durch sein übertrieben geziertes Benehmen wieder zerstörte. Sie schüttelte den Schmutz und die Grasreste von ihren Röcken, dann flocht sie ihre hüftlangen Haare geschickt zu einem fast armdicken Zopf, der auf dem schmalen Rücken ihres blauen Jagdgewandes hin und her schwang. Ein lebendiges Pendel, von dem ihr Begleiter nicht die Augen nehmen konnte, als sie ihren Weg fortsetzen. Das verblüffende Gefühl von vertrauter Einmütigkeit, das ihn an ihrer Seite überkam, mutete ihn seltsam beunruhigend an. Fast, als wären sie sich in einem anderen Leben schon einmal begegnet.
»Wollt Ihr mir nicht Euren Namen verraten?«, erkundigte er sich aus diesen Gedanken heraus.
Roselynne zögerte, ohne zu wissen warum. Am liebsten hätte sie sich geweigert, solange sie noch nicht wusste, wie sie all die wirren Gedanken und Gefühle einordnen sollte, die sie an seiner Seite verspürte.
Allein, was hatte sie für einen Grund, eine solche Auskunft zu verweigern? Keinen. Und ebenso wenig hatte sie Anlass, sich für diesen Namen zu schämen. Sie gab sich einen Ruck.
»Mein Name ist Roselynne de Cambremer. Ich bin die Tochter des Lords von Hawkstone und eine Ehrendame der königlichen Prinzessin«, sagte sie mit hörbarem Selbstbewusstein in der sonst so sanften Stimme. »Mein Vater zählt zu jenen Rittern, die mit dem Eroberer die große Schlacht bei Hastings gewonnen haben.«
Hawkstone? Im letzten Moment konnte der Mann an ihrer Seite einen Ausruf unterdrücken. Verdammt! Er versuchte in den Tiefen seines Gedächtnisses Aufklärung zu finden, aber er scheiterte. Damals hatte es nur ein Antlitz für ihn gegeben, dessen Züge sich mit grausamer Endgültigkeit in sein Herz gegraben hatten. Aber er erinnerte sich an Schwestern. Kinder, die ein wundervolles Haus mit Lachen und Übermut erfüllt hatten, die einem Fremden Trost anboten, wo es keinen Trost geben konnte.
Der Zorn, den er sonst so geschickt unter Kontrolle hielt, drohte ihn für einen Moment lang zu ersticken. Er brachte keine der notwendigen Höflichkeiten über die Lippen, auf die seine Begleiterin sicher wartete.
»Ihr kennt den Lord von Hawkstone?« Roselynne warf ihm einen erstaunten Blick zu. »Die Familie meines Vaters kommt aus der Normandie. Die Herren von Cambremer in der Normandie sind ebenfalls Vasallen von Herzog Robert.«
Der Stolz auf ihre Familie, ihren Namen und ihre Abstammung war aus jedem einzelnen Wort zu vernehmen. Der Reiter neben ihr meisterte den Aufruhr seiner Gedanken und Gefühle in einer einzigen fließenden Bewegung. Roselynne spürte, wie sich die Zusammensetzung der Luft zwischen ihnen änderte. Sie hätte nicht zu sagen gewusst, was diesen Wechsel verursacht hatte, aber mit einem Male lauerte zwischen ihnen die elektrisierende Spannung eines auf ziehenden Gewitters.
»Ich bevorzuge Rouen«, entgegnete er im selben Augenblick so blasiert, als wäre die wohl befestigte und noble Burg von Cambremer eine jener zugigen Festungen, die man nach besten Kräften meiden musste. »Wäre es nicht im Auftrag des Herzogs erforderlich, ich hätte meine Heimat nie verlassen. Ich glaube nicht, dass mir diese Insel sonderlich gefällt. Man sagt, das Wetter sei auf die Dauer ganz abscheulich, und diese Straßen ...je nun ...«
Das Wetter? Roselynne blinzelte verwirrt in den goldenen Sonnenschein dieses makellosen Herbsttages und wusste nichts mehr zu sagen. Ihre sonst so erstaunliche Kunst, andere Menschen einzuschätzen und zu durchschauen, versagte mit einem Schlage, als hätte der Normanne einen unsichtbaren Vorhang zwischen ihnen aufgezogen.
Die Stimme der eigenen Vernunft riet ihr, nicht an
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