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Herr Palomar

Herr Palomar

Titel: Herr Palomar
Autoren: Italo Calvino
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er zwischen Phantomen; menschliche Schemen verlagern in unnatürlichen Haltungen ihr Gewicht, machen sich nicht den Wind zunutze, sondern die geometrische Abstraktion eines Winkels zwischen dem Wind und der Neigung einer künstlichen Apparatur, um derart über die glatte Haut des Wassers zu gleiten. Gibt es gar keine Natur?
     Das schwimmende Ich des Herrn Palomar ist eingetaucht in eine körperlose Welt, Kraftfeldüberschneidungen, Vektordiagramme, Bündel von Linien, die konvergieren, divergieren, sich brechen. Doch in seinem Innern bleibt eine Stelle, wo alles auf eine andere Art existiert, als Knoten, Klumpen, Gerinnsel: das Gefühl, daß man da ist, aber auch nicht da sein könnte, in einer Welt, die nicht da sein könnte, aber da ist.
     Jäh reißt eine heftige Welle das Meer aus der Ruhe: Ein Motorboot donnert vorbei, schlägt klatschend den fachen Bauch aufs Wasser und spuckt Benzin. Der ölig schillernde Schleier, den es hinter sich herzieht, verbreitet sich langsam im Wasser – die stoffliche Konsistenz, die dem Gleißen der Sonne abgeht, ist nicht zu bezweifeln für diese Spur der physischen Gegenwart des Menschen, der seinen Weg mit Kraftstoffverlusten, Verbrennungsrückständen und nichtassimilierbaren Abfällen übersät, während er rings um sich her das Leben und den Tod miteinander vermischt und vervielfacht.
     Dies ist meine Umwelt – denkt Herr Palomar –, bei der es nicht zur Debatte steht, ob ich sie annehme oder ablehne, denn nur hier kann ich leben. – Doch wenn das Schicksal des Lebens auf dieser Erde bereits besiegelt wäre? Wenn der Lauf in den Tod nun stärker würde als jede Chance zur Umkehr?
     Die Welle gleitet vorüber, rollt weiter und schlägt ans Ufer; und wo bisher nur Sand, Kies, Algen und winzige Muschelschalen zu sehen waren, enthüllt das rückwärtsfließende Wasser ein Stückchen Strand, übersät mit Blechdosen, Plastikfaschen, Präservativen, toten Fischen, verrotteten Schuhen, zerbrochenen Injektionsspritzen und teerigen Ölschlammklumpen.
     Herr Palomar, angehoben auch er von der Welle des Motorbootes, umspült von der Flut des Unrats, fühlt sich mit einem Mal selber als Abfall inmitten von Abfällen, als Kadaver vor den Müllkippen-Stränden der Friedhofs-Kontinente. Würde kein Auge mehr außer dem glasigen Auge der Toten sich auf die Land-  und Wasserfläche des Globus öffnen, so würde das Schwert der Sonne nie wieder glänzen.
     Genau bedacht ist solch eine Situation nicht neu: Milliarden Jahre lang hatten die Strahlen der Sonne bereits auf dem Wasser geruht, bevor es Augen gab, die sie wahrzunehmen imstande waren.
     Herr Palomar schwimmt ein Stück unter Wasser und taucht wieder auf: Da ist das Schwert! Eines Tages tauchte ein Auge auf aus dem Meer, und das Schwert, das schon da war und es erwartete, konnte nun endlich die ganze Pracht seiner schlanken Spitze und seines schimmernden Gleißens entfalten. Sie waren füreinander geschaffen, das Schwert und das Auge; und wer weiß, vielleicht war es nicht die Geburt des Auges gewesen, die einst das Schwert hervorgebracht hatte, sondern umgekehrt, denn das Schwert konnte nicht auf ein Auge verzichten, das es an seiner Spitze betrachtete.
     Herr Palomar denkt an die Welt ohne ihn: die endlose Welt vor seiner Geburt und die noch wesentlich dunklere nach seinem Tod. Er versucht sich vorzustellen, wie die Welt gewesen sein mochte, bevor es Augen gab, irgendein Auge; und wie eine Welt von morgen sein mag, die durch eine Katastrophe oder durch langsame Korrosion erblindet ist. Was geschieht (geschah, wird geschehen) in solch einer Welt? Pünktlich trifft ein Strahlenspeer von der Sonne ein, spiegelt sich auf dem ruhigen Meer und glitzert im Wasser – schon wird die Materie empfänglich für Licht, beginnt sich zu regen, differenziert sich in lebende Organismen, und plötzlich erblüht ein Auge, eine Vielzahl von Augen, oder erblüht von neuem …
     Alle Surfbretter sind jetzt an Land gezogen, und auch der letzte bibbernde Badende – ein Herr namens Palomar – steigt aus dem Wasser. Er hat sich davon überzeugt, daß jenes Schwert auch ohne ihn existieren wird: Endlich kann er sich abtrocknen und nach Hause gehen.
     

Herr Palomar im Garten
Die Paarung der Schildkröten
    Im offenen Innenhof sind zwei Schildkröten: Männchen und Weibchen. Klack, klack, schlagen die Schildplatten aufeinander. Es ist Paarungszeit. Herr Palomar späht im Verborgenen.
     Das Männchen bedrängt das Weibchen, treibt es mit
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