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Herr Palomar

Herr Palomar

Titel: Herr Palomar
Autoren: Italo Calvino
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sich den nach-  und über sie kommenden Wellen entgegenstellt, und konzentriert man die Aufmerksamkeit auf diese rückwärtsgewandten Schübe, so scheint es, als sei die wahre Bewegung das Drängen vom Ufer zum Meer.
     Ist dies womöglich das wahre Ergebnis, zu dem Herr Palomar gerade gelangt: die Wellen in Gegenrichtung laufen zu lassen, die Zeit umzukehren, die wahre Substanz der Welt jenseits der üblichen Sinnes-  und Denkgewohnheiten zu erkennen? Nein, er gelangt nur bis zur Empfindung eines leichten Schwindelgefühls, nicht weiter. Das beharrliche Drängen, das die Wellen zur Küste treibt, überwiegt, sie haben sogar noch an Stärke gewonnen. Dreht sich etwa der Wind? Wehe, wenn das Bild, das Herr Palomar so penibel zusammenbekommen hat, jetzt durcheinandergerät und zerfällt! Nur wenn es ihm gelingt, alle Aspekte gleichermaßen im Blick zu behalten, kann er die zweite Phase seiner Operation in Angriff nehmen: die Ausweitung dieser Erkenntnis auf das ganze Universum.
     Es würde genügen, nicht die Geduld zu verlieren, was aber bald geschieht. Herr Palomar geht weiter den Strand entlang, nervös wie zuvor und noch Ungewisser in allem.
     

Der nackte Busen
    Herr Palomar geht einen einsamen Strand entlang. Vereinzelt trifft er auf Badende. Eine junge Frau liegt hingebreitet im Sand und sonnt sich mit nacktem Busen. Herr Palomar, ein diskreter Zeitgenosse, wendet den Blick zum Horizont überm Meer. Er weiß, daß Frauen in solchen Situationen, wenn ein Unbekannter daherkommt, sich häufig rasch etwas überwerfen, und das findet er nicht schön: weil es lästig ist für die Badende, die sich in Ruhe sonnen will; weil der Vorübergehende sich als ein Störenfried fühlt; weil es implizit das Tabu der Nacktheit bekräftigt und weil aus halbrespektierten Konventionen mehr Unsicherheit und Inkohärenz im Verhalten als Freiheit und Zwanglosigkeit erwachsen.
     Darum beeilt er sich, sobald er von weitem den rosig-bronzenen Umriß eines entblößten weiblichen Torsos auftauchen sieht, den Kopf so zu halten, daß die Richtung der Blicke ins Leere weist und dergestalt seinen zivilen Respekt vor der unsichtbaren Grenze um die Personen verbürgt. Allerdings – überlegt er, während er weitergeht und, kaum daß der Horizont wieder klar ist, die freie Bewegung seiner Augäpfel wieder aufnimmt – wenn ich mich so verhalte, bekunde ich ein Nichthinsehenwollen, und damit bestärke am Ende auch ich die Konvention, die den Anblick des Busens tabuisiert, beziehungsweise ich errichte mir eine Schranke, eine Art geistigen Büstenhalter zwischen meinen Augen und jenem Busen, dessen Anblick mir doch, nach dem Schimmern zu urteilen, das am Rande meines Gesichtsfeldes aufleuchtete, durchaus frisch und wohlgefällig erschien. Kurzum, mein Wegsehen unterstellt, daß ich an jene Nacktheit denke, mich in Gedanken mit ihr beschäftige, und das ist im Grunde noch immer ein indiskretes und rückständiges Verhalten.
     Auf dem Heimweg von seinem Spaziergang kommt Herr Palomar wieder an jener sonnenbadenden Frau vorbei, und diesmal hält er den Blick fest geradeaus gerichtet, so daß er mit gleichbleibender Gelassenheit den Schaum der rückwärtsfließenden Wellen streift, die Planken der an Land gezogenen Boote, den Frotteestoff des über den Sand gebreiteten Badetuches, den Vollmond von hellerer Haut mit dem braunen Warzenhof und die Konturen der Küste im Dunst, grau gegen den Himmel.
     Jetzt – denkt er mit sich zufrieden, während er seinen Weg fortsetzt – jetzt ist es mir gelungen, mich so zu verhalten, daß der Busen ganz in der Landschaf aufgeht und daß auch mein Blick nicht schwerer wiegt als der einer Möwe oder eines fliegenden Fisches.
     Aber ist eigentlich – überlegt er weiter – dieses Verhalten ganz richtig? Bedeutet es nicht, den Menschen auf die Stufe der Dinge niederzudrücken, ihn als Objekt zu betrachten, ja, schlimmer noch, gerade das an seiner Person als Objekt zu betrachten, was an ihr spezifisch weiblich ist? Perpetuiere ich damit nicht gerade die alte Gewohnheit der männlichen Suprematie, die mit den Jahren zu einer gewohnheitsmäßigen Arroganz verkommen ist?
     Er dreht sich um und geht noch einmal zurück. Wieder läßt er den Blick mit unvoreingenommener Sachlichkeit über den Strand gleiten, aber diesmal richtet er es so ein, daß man, sobald die Büste der Frau in sein Sichtfeld gelangt, ein Stocken bemerkt, ein Zucken, fast einen Seitensprung. Der Blick dringt vor bis zum Rand der gewölbten
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