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Herr Möslein ist tot (German Edition)

Herr Möslein ist tot (German Edition)

Titel: Herr Möslein ist tot (German Edition)
Autoren: Tatjana Meissner
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vergehen wie im Flug. Ich genieße jeden Augenblick, singe mit ihr zu Frank Schöbels Kinderlieder-Schallplatte »Komm wir malen eine Sonne«, die wir mit der neuen silbernen RFT -Anlage abspielen, wir kuscheln und toben und üben die Buchstaben beim Glücksrad. Das haben wir immer so gemacht. Dadurch kannte Pauli schon vor ihrer Einschulung alle Buchstaben des Alphabets. Kaum winkt Maren Gilzer zum Abschied freundlich in die Kamera, stupst Pauli mich an. »Mami? Erzählst du mir bitte, bitte ein Märchen?« Ich lasse mich sofort überreden. Als junger Mensch hatte ich nur selten Lust auf Geschichten, und jetzt … bin ich wahrscheinlich reif, endlich Großmutter zu werden. Genau, ich muss mit meiner erwachsenen Pauli darüber sprechen, sobald ich aus diesem Traum aufwache. Die kleine Pauli frage ich: »Und welches Märchen soll ich erzählen?«
    »Eins mit Zauberei und Verliebtsein!«, sagt Pauli. Ihre Wangen glühen vor Aufregung. Wir kuscheln uns zusammen in mein Erkerbett, und ich suche in meinem langjährigen Film- und Serienerfahrungsschatz nach einer geeigneten Geschichte. »Ah, jetzt fällt mir was ein. Ich erzähle dir das Märchen: Zurück in die Vergangenheit!«
    Diese 1989 in den USA produzierte Serie wurde Mitte der Neunziger jeden Sonntag um elf in Deutschland gesendet und nach Dallas zu einer meiner wenigen Lieblingsfernsehserien. Der Hauptakteur Sam erfindet einen Quantenbeschleuniger, der ihn unkontrolliert durch die Zeit reisen und temporär die Identität anderer Menschen annehmen lässt, um in deren Leben einzugreifen. Das Ziel jeder Reise ist es, das Leben der Protagonisten positiv zu beeinflussen. Was Sam in der Vergangenheit dafür tun muss, erfährt er von Al, einem Hologramm, das ich für Pauli als Zauberer beschreibe. Pauli gibt mir einen dicken Kuss, kuschelt sich erwartungsfroh an mich und ist bald darauf eingeschlafen. Ich betrachte ihren kleinen Körper im rosa Schlafanzug liebevoll und wünsche mir, diesen Anblick ganz fest in meinem Herzen zu behalten.
    ***
    Das Märchen vom Zeitreisenden Sam hat versteckte Synapsen in meinem Hirn zum Schwingen gebracht. Ich gehe grübelnd zur Küche, mache das Licht an und erblicke Heinzi, der die ganze Zeit missmutig und allein in der dunklen Küche gesessen haben muss. Irgendwie tut mir Heinz ein bisschen leid, wie er leicht gekrümmt am Tisch sitzt und vor sich hin starrt. Heute tut er mir leid. Damals nicht. Damals war ich wütend, weil er so oft wütend war. Und laut. Als junge Frau war ich ängstlich, wenn ich ihn traf, heute bin ich gelassen. Auch weil ich später, Mitte der Neunziger, selbst erlebt habe, wie schlimm es ist, wenn man verlassen wird, wie sehr der eigene Stolz verletzt und das Selbstwertgefühl ruiniert wird. Als Ingo mich wegen einer Anderen sitzen ließ, hatte ich mir aus lauter Verzweiflung die Haare blond gefärbt und die Wohnung neu renoviert. Heinz ’ Haare sind von Natur aus blond. Die einzige Trennungsverzweiflungstat, die ich bei ihm feststellen kann, ist der etwas häufigere Schnapskonsum. Aber das war im Osten ja nichts Besonderes. Die DDR war auf dem Gebiet erwiesenermaßen Weltspitze.
    »Na Heinz, wie geht’s dir?«
    »Wie soll’s mir gehen? Beschissen. Du willst mich ja nicht mehr.« Heinz lallt ein wenig. Vor ihm auf dem Tisch steht eine Flasche Blauer Würger , ein klarer Schnaps namens Juwel mit blauem Etikett.
    »Bitte, lass uns nicht streiten, schon wegen Pauli«, sage ich automatisch.
    »Sag mir mal, mit wem du dich getroffen hast, im Januar in Westberlin?« Heinz schenkt sich das nächste Glas ein.
    »Hä? Wie kommst du da drauf? Ist schon so lange her!«
    »Genauso lange, wie du dich scheiden lassen willst.« Heinz wirft den Kopf in den Nacken und schüttet sich den Schnaps in den Hals.
    »Heinzi, das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Du weißt doch, ich war bei Tante Evas 60. Geburtstag und habe meinen Cousin und die ganze Westberliner Sippe getroffen.« Ich überlege, ob das jetzt nur im Traum passiert oder ob ich das schon einmal erlebt habe, komme zu keinem Ergebnis und lächle beschwichtigend. Heinz fixiert mich mit seinen stechend blauen Augen, und seine Nase, die mich ein wenig an Thomas Gottschalk erinnert, kräuselt sich bedrohlich.
    »Wer ist Jürgen Dornheim?«, ruft er, jedes Wort einzeln betonend.
    O Gott! Jürgen. Der kommt morgen, das steht in meinem Terminkalender. Jetzt fällt es mir wieder ein. Das ist der Jura-Student aus Westberlin! Das war’n Ding. Damals im Januar ’ 89. Ich
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