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Herr Möslein ist tot (German Edition)

Herr Möslein ist tot (German Edition)

Titel: Herr Möslein ist tot (German Edition)
Autoren: Tatjana Meissner
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davon wegspritzen zu lassen. Wenn die wüssten, wie doof das aussieht, wenn man mit glattem Gesicht, aber krummem Rücken und Hüftschaden durch die Welt humpelt, denke ich und blättere weiter.
    Bei Familienstand steht: » VERHEIRATET «, und handschriftlich darunter: »s. S. 7–12«. Auf Seite 9 steht: » AKAD . GRAD DIPL .- OEC .«, und darunter: » FAM . STAN D – GESCHIEDEN «. Auf einem dicken, kleinkarierten Schulheft für eine Mark lese ich: »Abrechnung 1989 Cora« . Das war Bettys und mein Künstlername als Tanzduo. In diesem Heft habe ich – wahrscheinlich schon immer kleinkarierter Ökonom – auf den Pfenning genau jede Einnahme und Ausgabe aufgelistet. Witzig, was ich alles notiert habe. Die Übernachtung in Schwerin hatte 21 Mark gekostet, der Zusammenschnitt unserer neuen Tanzmusik im Tonstudio 150 Mark, das Zeltgestänge von Pouch für unseren Bühnen-Paravant kostete 43 Mark, der Stoff dazu nur 18 Mark. Beides benutze ich heute noch ab und zu … eine sensationelle Investition der ungeliebten Ostmark in die Zukunft!
    Dann durchforste ich den Terminkalender. Morgen ist Dienstag, da habe ich Probe, und um 14 Uhr habe ich »Jürgen« notiert. Welcher Jürgen? Mhm, ich muss mich überraschen lassen. Beim schnellen Durchblättern sehe ich viele Eintragungen zu anstehenden Auftritten. Ja, die Volkseigenen Betriebe, die Nachtbars und Kulturhäuser hatten alle einen großen Kulturfonds und die Werktätigen dadurch immer zu günstigen Preisen Kultur jedes Genres. Für ’ n Appel und ’ n Ei. Ich ziehe an meiner Zigarette und verspüre nicht die geringste Lust, weiter zu träumen – nicht nur wegen der Kohle-Forster-Heizung, die ich im bevorstehenden Winters beheizen müsste, auch wegen der Langeweile, die mich bei Wiederholungen martert. Nicht mal gute Filme kann ich zweimal gucken. Außerdem habe ich Angst davor, Pauli zu treffen. Wer weiß, was meine Emotionen mit mir machen, wenn mein vierjähriger Liebling plötzlich vor mir steht. Ob ich ihre hohe Stimme, ihr lautes Spielen und Gekreische aushalten kann? In meinem Alter?
    »Mutti, Mutti? Wir sind daha. Guck mal, was ich dir gemalt habe!« Ich hatte den Schlüssel in der Tür nicht gehört, schrecke auf und gehe nervös, wie bei der eigenen Schuleinführung, in den Flur. »Tach!«, sagt Heinz und steht ein bisschen verklemmt vor der Garderobe. Heinz ist ziemlich klein und Pauli noch kleiner. Aber ich habe keine Zeit festzustellen, wie klein und jung die beiden sind. Pauli streckt mir ihre Ärmchen entgegen, und ich hebe sie hoch. Wie lecker sie riecht. Nach Kindergarten und Eierkuchen und Baby. Ihre dünnen Strüffelhaare kitzeln mein Gesicht. Ich hatte vergessen, wie schön das alles ist. Ich drücke meiner Süßen einen fetten Schmatzer auf die weiche Wange, setze sie ab und betrachte ihr selbstgemaltes Bild. »Guck mal, Mami, das bist du, und das ist Papa, und hier bin ich.« Ihre Stimme klingt wie Musik in meinen Ohren. Auf dem Bild erkenne ich drei kaum zu unterscheidende viereckige Kästen mit Kullern drauf, die von einer gelben Sonne beschienen werden. »Toll, meine Süße. Wirklich, ganz doll schön hast du das gemacht!« Meine Stimme ist heiser. Der blöde Kloß im Hals geht nicht weg, vor Rührung und wegen der alten Gewissensbisse, die beim Anblick meines kleinen und dicken Mädchens sofort hochgespült werden. Die Scheidung und meine außergewöhnliche Berufstätigkeit als Tänzerin hatten mich jahrelang psychisch belastet, verhinderten, dass ich meinen wunderbaren Beruf wirklich genießen und mich entwickeln konnte. Immer fühlte ich mich zwischen Baum und Borke. Während ich meinem Baby die – heute schon wieder moderne – weiße Topfmütze vom Kopf ziehe und sie sich aus ihrer roten Übergangsjacke wurschtelt, versuche ich, mich zu beruhigen. Tati, alles gut! Du warst immer eine verantwortungsbewusste Mutter, hast dich dafür eingesetzt, dass Paula ihren Vater nie vermissen musste. Ihr habt trotz Scheidung viel miteinander unternommen, Geburtstage und Weihnachten zusammen gefeiert, und letztendlich hast du Paula mit deinem Beruf viel ermöglicht: gemeinsame Tagesfreizeit und finanzielle Sicherheit. Pauli wird eine tolle, intelligente, fleißige, charmante und hübsche junge Frau.
    »Mami, darf ich Glücksrad gucken? Darf ich bei dir schlafen?« Pauli spürt sicher meine Verunsicherung und nutzt sie zu ihren Gunsten. Da ich mich fühle, als wäre ich nur auf Besuch in meinem alten Leben, erlaube ich ihr alles. Die nächsten Stunden
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