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Herr Klingsor konnte ein bißchen zaubern.

Herr Klingsor konnte ein bißchen zaubern.

Titel: Herr Klingsor konnte ein bißchen zaubern.
Autoren: Otfried Preußler
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großartiger Zeichner, das sind andere Lehrer auch. Aber wenn der Herr Klingsor im Unterricht eine Rose an die Wandtafel zeichnete, dann begann sie im nächsten Augenblick richtig zu duften. Und genauso war es mit allen anderen Blumen. Gleichgültig ob er Veilchen zeichnete oder Narzissen, Nelken oder Hyazinthen: Sie alle begannen sofort zu duften.
    Zeichnete der Herr Klingsor ein paar Vögel an die Tafel, etwa Amseln oder Drosseln, Rotkehlchen oder Stieglitze, dann fingen sie auf der Stelle an zu zwitschern und zu pfeifen. Und damit noch nicht genug!
    Einmal hatte er einen Specht an die Tafel gezeichnet und kürzlich sogar eine Nachtigall. Der Specht hatte mit dem Schnabel so fest an die Tafel geklopft, dass Herr Klingsor ihn rasch wieder wegwischen musste, sonst hätte die Tafel ein Loch bekommen. Und die Nachtigall hatte so herrlich geschlagen, dass es den Kindern ganz weich ums Herz geworden war. Und das blasse Mariechen Kleinwächter hat sogar weinen müssen: So schön war das Lied der Nachtigall.
    Ein paar Tage zuvor hatte der Herr Klingsor den Kindern von den Eskimos erzählt, die bekanntlich im ewigen Eis leben und in Iglus hausen.
    »Solche Iglus«, erklärte er ihnen, »sind runde Eskimohütten, die nicht aus Holz oder Steinen errichtet werden, sondern aus Schneeziegeln. Und sie sehen ungefähr so aus ...«
    Er zeichnete mit raschen Strichen eine Eskimohütte an die Wandtafel. Und kaum hatte er richtig damit begonnen, da wurde es seinen Schulkindern schon vom bloßen Hinsehen schrecklich kalt. Rasch zogen sie ihre Mäntel an und setzten die Mützen auf. Und die Annelies Petrak wickelte sich so fest in ihr dickes rotes Wolltuch ein, dass kaum noch die Nasenspitze hervorschaute.
    Selbst der Herr Klingsor hatte kalte Finger bekommen. Deshalb bat er den Herbert Löwit und Appelts Willi: »Ach bitte, ihr beiden, wischt mir doch rasch die Tafel ab, sonst werden wir noch zu Eiszapfen!«
    Danach hat Herr Klingsor geschwind ein Negerdorf an die Tafel gezeichnet, genauer gesagt einen afrikanischen Hottentottenkral.
    Davon ist es den Kindern rasch wieder warm geworden. Und zwar so gründlich, dass von der Eskimokälte nicht einmal das Lottchen Holdgrün einen Schnupfen bekommen hat.
    Tja, und dann ist eines schönen Tages der Herr kaiserlich-königliche Stadt- und Bezirksschulinspektor Tschörner zur Visitation in die dritte Klasse gekommen. Heute würde man sagen: Es war der Herr Schulrat.
    Der Herr k. lc. Stadt- und Bezirlcsschulinspektor Tschörner ist ein würdiger und gestrenger Herr gewesen, vor dem alle Lehrerinnen und Lehrer großen Respekt hatten. Und die Schulkinder übrigens auch.
    Deshalb saßen sie an diesem Morgen besonders brav und besonders aufrecht in ihren Bänken und alle arbeiteten im heutigen Unterricht überaus fleißig mit. Der Herr Klingsor konnte mit ihnen zufrieden sein - und der Herr k. lc. Stadt- und Bezirlcsschulinspektor Tschörner auch.
    Er saß in der linken hinteren Ecke des Schulzimmers in einem Lehnstuhl, den der Herr Schuldiener Büttner eigens für ihn dort aufgestellt hatte. Die Rechenstunde verlief wie am Schnürchen. Auch an der darauf folgenden Heimatkundestunde gab es nichts auszusetzen. Der Herr Inspektor machte sich eifrig Notizen und nickte von Zeit zu Zeit mit dem Kopf.
    Die dritte Stunde war eine Lesestunde. Da wollte Herr Klingsor mit seinen Kindern die Fabel »Der Spatz und der Löwe« durchnehmen. Um die Kinder ein bisschen neugierig zu machen, zeichnete er zunächst einen Löwen an die Wandtafel. Einen richtigen großen Löwen mit einer mächtigen Löwenmähne und allem, was sonst noch zu einem richtigen Löwen gehört. Es war wirklich ein schöner, ein ungemein großer und prächtiger Löwe.
    Und dennoch! Sein Aussehen ließ, zumindest in den Augen des Herrn Inspektors, an einer entscheidenden Stelle zu wünschen übrig. Und da ja ein k. lc. Stadt- und Bezirksschulinspektor den einfachen Lehrerinnen und Lehrern dann und wann zeigen muss, dass er alles ein bisschen besser weiß und versteht als sie, konnte er der Versuchung auch diesmal nicht widerstehen.
    Mit einem Räuspern erhob er sich aus dem Lehnstuhl, ging nach vorn und bemängelte, dass Herr Klingsor dem Löwen zu kleine Zähne gemalt hatte.
    »Denn, Herr Kollege«, sagte er mit gewichtiger Miene. »Der Löwe ist ein Raubtier und hat ein Raubtiergebiss. Aber was Sie da gezeichnet haben, sind bestenfalls Mausezähne.«
    »Ganz richtig, Herr Schulinspektor. Und wissen Sie auch, warum?«
    Vermutlich hat der Herr
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