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Hermann Hesse: Das Leben des Glasperlenspielers (German Edition)

Hermann Hesse: Das Leben des Glasperlenspielers (German Edition)

Titel: Hermann Hesse: Das Leben des Glasperlenspielers (German Edition)
Autoren: Heimo Schwilk
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und der Schlusssteine wächst. Der Ort, der den größten Eindruck auf ihn machte, war das Chorgestühl. An den Reliefs, die an den Außenwangen des Holzgehäuses angebracht sind, kann er nur mit Ehrfurcht vorübergehen. Sie zeigen Szenen aus dem Alten Testament, wie Moses vor dem brennenden Dornbusch, den Wettstreit Kains und Abels, die Opferung Isaaks und den Kampf Samsons mit dem Löwen. Eine Welt, in der das eherne Gesetz Jahwes gilt und noch nicht die Menschenliebe Christi, auch wenn zwischen die alttestamentarischen Bilder christliche Motive wie das der Jungfrau mit dem Einhorn oder ein Porträt der Muttergottes eingeschoben sind, die den Blick auf das Neue, die Erlösungsbotschaft Jesu lenken. So fern ihm diese mythischen Bilder auch sind, so nahe geht ihm der Gedanke, dass die Gewalt- und Opferwelt der biblischen Stammväter und Propheten auch in ihn hineinreicht, ein Kain ebenso in ihm schlummert wie ein Abel, und dass im väterlichen Haus in Calw ebenfalls ein wenig von dieser Patriarchenluft weht, wie sie in diesen Darstellungen zum Ausdruck kommt.
    Etwas abseits, an der Südwand des Chors, thront ein prächtiger Abtstuhl mit kunstvoll geschnitztem Baldachin. Als er die Klosteranlage zum ersten Mal erkundete, erregte das Relief an seiner Brüstung seine Aufmerksamkeit. Aus dem wie Flammen züngelnden Blättergewirr eines einzigen Rebstocks baut sich ein Paradiesgarten auf, eine Wildnis von Bäumen und Gekräute, mit Leibern und Köpfen von Tieren und allerlei Fabelwesen. Hinter dem Stamm des Weinstocks aber lauert ein Armbrustschütze, Sinnbild des Schmerzes, der jeden Augenblick in diese Idylle einbrechen kann. Dann bemerkte Hermann ein vogelartiges Wesen, das mit ausgebreiteten Schwingen über den Garten streicht, als sei dieses aus Lust und Schmerz zusammengefügte Reich eben erst aus seinem gewaltigen Ei geschlüpft. Ist dieser mysteriöse Vogel der eigentliche Schöpfer der Welt – und nicht der Allmächtige, den jeder Stein dieses Kirchenbaus zu verherrlichen sucht? Und was bedeutet die in die Rückenlehne des Abtstuhls geschnitzte Inschrift: »Vere Deus absconditus«? Hatte der Künstler erkannt, dass der wahre Gott im Verborgenen bleibt und es wenig hilft, sich ein Bild von ihm zu machen? Wie passt das aber zusammen mit dem herrlichen Kruzifix, das im vorderen Teil des Kirchenschiffs aufragt, wo einst die Laienmönche ihre Gebete verrichteten? Dort ist der Gekreuzigte im Augenblick des größten Leidens dargestellt: Der magere Brustkorb wölbt sich unter den Konvulsionen des Schmerzes mächtig auf, das Haupt ist zur Seite geneigt, der Mund halb geöffnet: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Man erzählt sich im Seminar, dass in den Tagen der Sommersonnenwende ein dünner Lichtstrahl aus einem der oberen Kirchenfenster auf das Haupt des Heilands fällt und dabei die Dornenkrone in hellem Glanz aufstrahlen lässt. Ist dieses Licht die Brücke, die zurück ins göttliche Geheimnis führt, wo Schmerz und Leiden aufgehoben sind?
    Auch jetzt, beim Blick von seinem Strohlager hinauf in den von Sternen übersäten Himmel wird Hermann von der Macht der kosmischen Tiefe überwältigt, der Schwindel der Unendlichkeit greift ihm ans Herz, ein eisiges Todesgefühl, das nicht allein von der frühmorgendlichen Kälte herrührt, die vom Boden aufsteigt. Halb im Schlaf hört er hallende Schritte, sieht im Frühnebel eine Gestalt in einiger Entfernung auf der Straße vorbeigehen und im Dunkeln entschwinden – doch dann bricht die Sonne durch den Nebel und neuer Lebensmut durchströmt ihn. Hermann streckt seine klammen Glieder und klopft sich das Stroh aus den Kleidern. Jetzt muss er wieder in die Welt hinein, auch wenn er ratlos ist, wohin.
    Er hat keine Ahnung davon, dass seine Kameraden am Vortag ausgeschwärmt sind, um den Ausreißer aufzuspüren. Bis tief in die Nacht hinein haben sie die Wälder um Maulbronn nach allen Himmelsrichtungen abgesucht, unablässig »Hesse!« rufend. Schon am Nachmittag des 7. März 1892, »um 4 Uhr 40«, hatte Professor Paulus ein Telegramm an Johannes Hesse, Hermanns Vater, aufgegeben: »Hermann fehlt seit 2 Uhr. Bitte um etwaige Auskunft.« 6 »Missionar Hesse« antwortet noch am Abend, er wisse nichts: »Bitte Beruhigung telegraphieren.« 7 In Calw verbringt Hermanns Mutter Marie eine schreckliche Nacht am Bett ihrer fiebernden Tochter Marulla. Zur Angst um das Kind kommt jetzt die Sorge um den Sohn, der irgendwo in der kalten Nacht unterwegs ist. Marie
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