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Hering mit Heiligenschein

Hering mit Heiligenschein

Titel: Hering mit Heiligenschein
Autoren: Claudia Toman
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noch vor den obligatorischen Disney-Cartoons und lange, lange vor den Heringen wieder aufzubrechen. Diesmal will ich das tun, was ich schon immer zu Weihnachten tun wollte: Mich mit Freunden treffen, durch die Stadt ziehen, Burger bei McDonald’s essen und so tun, als gäbe es nichts zu feiern. Weihnachten kurzerhand ausfallen lassen. Dieses Weihnachten kann ich es mir gutgehen lassen, denn um Punkt Mitternacht werden meine Eltern wieder vergessen haben, dass ihre Tochter das gemeinsame Weihnachtsessen verweigert, die Stockfische verschmäht und die Häkelsocken an frierende Bettler weiterverschenkt hat.
    Was für ein Fest!
    ***
    »Es ist ein Mann, stimmt’s?«
    Meine Mutter sieht aus feuchten Augen zu mir auf, in der einen Hand ein gigantisches Küchenmesser, in der anderen ein Taschentuch, in das sie sich soeben geräuschvoll geschneuzt hat.
    »Aber Küken, du kannst ihn uns doch vorstellen. Ihr könnt mit uns zu Abend essen, umso besser, wenn er gleich am Anfang die Traditionen deiner schwedischen ...«
    »Herrgott, Mama, hörst du mir überhaupt zu?«
    »Aber ja, Küken, aber ja.«
    Immer wenn meine Mutter das Küken auspackt, das ich für sie wegen meiner hellblonden Haare als Kleinkind gewesen und bis heute geblieben bin, bewegt sie sich auf einem dünnen Drahtseil über ein Tränenmeer. Gleich bei meiner Ankunft habe ich nämlich der staunenden Familie verkündet, dass ich am Abend andere Pläne hätte und daher an Heiligabend zur Bescherung nicht anwesend sein würde. Nach einer Phase betretenen Schweigens behandelt man mich seitdem wie ein neues, besonders empfindliches Haustier. Mit besorgten Blicken verfolgte mein Vater jede meiner Bewegungen. Mein Schwager machte halbherzige Witze über die Nachteile der Eltern-Kind-Bindung, meine Schwester versuchte, in Zeichensprache unbemerkt mit mir zu kommunizieren, und die Kinder umkreisten mich wie sonst nur die größten und vielversprechendsten Pakete unterm Baum. Einzig meine Mutter ist stumm in die Küche verschwunden, wo sie sich lauter als gewöhnlich dem Zubereiten der Fischspeisen widmete. Im ganzen Haus riecht es, als hätte jemand ein Aquarium mit Tannennadelsirup gefüllt und darin eine Legion Heringe erstickt. Nur das süße Aroma des Pfefferkuchens weckt Kindheitserinnerungen an ein vages Gefühl der Vorfreude. An helle Silberglöckchen, Schneeflocken vor dem Fenster und große Geheimnisse hinter verschlossenen Türen. Als mein Vater um Punkt drei Uhr nachmittags mit kindlicher Begeisterung im Gesicht die Donald-Duck-DVD startete, schlüpfte ich in die Küche und fragte, um Versöhnung bemüht, ob ich etwas helfen könne.
    »Es gibt keinen Mann, Mama. Schon seit fünf Jahren nicht, seit G-Gottfried« – ich tue mich immer noch schwer, den Namen dieses Mistkerls auszusprechen – »einen Teenager geschwängert und mich sitzengelassen hat.«
    Das Kind mit dem Kind hat inzwischen ein Studium der Politikwissenschaft begonnen, und Gottfried, der angehende Schriftsteller, kümmert sich nun, wie man hört, um den Haushalt. Aber zum Glück ist das nicht mein Problem. Zum Glück bin ich erwachsen geworden.
    »Es ist ja auch kein Wunder, Åsa«, jammert meine Mutter nun wie so oft, »so wie du dich kleidest! Eine Frau mit deiner Figur und Turnschuhe! Und diese Polhemden ...«
    »Polo, Mama, es heißt Polo.«
    »Ist doch egal, wie die Dinger heißen, es ist nicht kleidsam. Männer sind wie Heringe, man muss sie fangen.«
    So ein Satz kann nur von meiner Mutter kommen!
    »Deine Schwester Inga ist zwei Jahre jünger als du und sie hat ...«
    »WAS?!«
    Ich werfe den Stapel Tupperware, den ich gerade zur Anrichte balancieren wollte, auf den Boden, wo sich die verschiedenen Plastikbehältnisse flächendeckend verteilen. Fassungslos lässt meine Mutter die Arme sinken, das Küchenmesser entgleitet ihr und landet scheppernd zwischen den Plastikboxen. Laut zu werden war nicht meine Absicht. Doch mit der verlockenden Aussicht, dass morgen früh alles vergessen sein wird, nehme ich mir die Freiheit, meiner Mutter einmal in meinem Leben zu sagen, was ich wirklich denke. Und das tue ich.
    Zehn Minuten später sitze ich, immer noch zitternd, in meinem Auto und fahre Richtung Innenstadt. Alles habe ich gesagt. Dass ich schwedische Weihnachten hasse. Dass ich keinen Fisch esse. Dass Inga nur deshalb stolze Zweifachmutter ist, weil sie für ihren Mann sämtliche beruflichen Ambitionen aufgegeben hat. Dass mein Vater keine eigene Meinung hat, sondern ein Duckmäuser ist. Dass
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