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Herbsttagebuch: Roman (German Edition)

Herbsttagebuch: Roman (German Edition)

Titel: Herbsttagebuch: Roman (German Edition)
Autoren: Kerstin Hohlfeld
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frage ich, um uns von dem unschönen Thema
weg zu einem fruchtbaren Gesprächsstoff zu bringen.
    Der Versuch
schlägt fehl.
    »Weiß nicht.«
Vicki blättert lustlos die hübsch gestalteten Seiten um.
    »Warum denn
nicht? Das ist doch total spannend.«
    Vicki seufzt.
»Es interessiert mich nicht«, gibt sie schließlich zu.
    »Warum denn
nicht?«, wiederhole ich enttäuscht.
    »Keine Ahnung«,
antwortet Vicki. »Ich denke, das muss an Papa liegen. Der konnte die ganze adelige
Sippe überhaupt nicht leiden, hat kein gutes Haar an den ganzen Von und Zus gelassen.
Er und sein Bruder haben sich von der Familie losgesagt und ihr eigenes Ding gemacht.«
    Aber hinterher
Schauermärchen erzählen! »Weißt du, warum?«, frage ich und schlucke eine spitze
Bemerkung herunter.
    »Nö«, antwortet
Vicki und blättert weiter. »Ich denke, es hatte etwas mit dem Beruf meiner Mutter
zu tun. Sie wollten keine Tingeltangel-Schauspielerin in der wohlgeborenen Familie.«
    »Das ist
wirklich ziemlich spießig«, gebe ich zu. »Augusta war bestimmt nicht so.«
    »Und woher
willst du das wissen?«
    »Hast du
das Foto gesehen?«, frage ich. »Sie sieht dir total ähnlich.« Das ist ein schlagendes
Argument! Ich weiß selbst nicht, warum ich will, dass Vicki ihre Urgroßtante sympathisch
findet.
    »Soll vorkommen
in Familien«, lautet Vickis lapidare Antwort.
    Ich glaube,
sogar ein Schimpanse hat mehr Familiensinn als meine Freundin. Ach, was sage ich.
Ameisen! Selbst die hängen aneinander, sogar über den Tod hinaus. Wenn eine gestorben
ist, kommen die anderen und schleppen sie weg. Soll sich Vicki mal ein Beispiel
daran nehmen.
    »Kann ich
das Tagebuch haben?«, frage ich.
    »Klar. Es
gefällt dir, stimmt’s? Wegen diesen vielen kitschigen Zeichnungen.«
    Ich überhöre
Vickis kleine Spitze und nicke begeistert. »Leider kann ich es nicht lesen.«
    »Das ist
Kurrentschrift«, sagt meine kluge Freundin und schaut die Seiten nachdenklich an.
»Die wurde ab 1915 schrittweise durch Sütterlin ersetzt und 1941 dann durch die
lateinischen Buchstaben, die wir heute schreiben. Ich habe ein Buch mit den verschiedenen
Schrifttafeln. Wenn du magst, kannst du es haben und dich an Augustas Handschrift
versuchen.«
    »Gerne«,
antworte ich.
    »Hast du
dieses blumenumrankte, schmalzige Herz gesehen?« Vicki schüttelt lachend den Kopf
und zeigt mir eine Seite.
    »Ist es
nicht wunderschön?«
    »Oh Mann«,
sagt Vicki und an ihrem Tonfall höre ich, dass sie meinen Geschmack ziemlich seltsam
findet. Das ist mir egal. Ich bin bekennende Romantikerin. Das sieht man auch ganz
deutlich an meiner Mode. Die meisten Frauen mögen das. Also kann es nicht ganz falsch
sein.
    Am gleichen
Abend gibt Vicki mir das versprochene Buch.
    Nachdem
wir Heilbutt mit Vollkornbrot verspeist haben, machen sich Vicki und Daniel eine
Flasche Wein auf und laden mich ein, mitzutrinken.
    »Ich will
mit dem Buch anfangen«, sage ich und bin bereits halb aus der Küche.
    Ich höre
Vicki und Daniel quatschen und lachen, während ich mühsam versuche, mithilfe der
Kurrentschrifttafel Augustas erste Eintragungen zu entziffern.
    Es klappt
nicht. Die junge Dame muss eine sehr eigensinnige Handschrift gehabt haben.
    Bevor ich
verzweifle, schnappe ich mir einen Stift und beginne anhand der Buchstabentabelle
selbst einen Brief in Kurrent zu schreiben. Irgendwie muss es mir gelingen, mich
in diese seltsame Schrift hineinzufinden.
    Ich komme
mir vor wie ein Schulkind in der ersten Klasse. Da habe ich immer d und b vertauscht
und musste jedes Mal ins Alphabet gucken, wenn ich ein Wort mit einem dieser Buchstaben
schreiben wollte.
    Nach einer
Stunde angestrengter Schreibübungen bin ich müde und beschließe, das Erlernen der
Kurrentschrift zu verschieben. Jeden Tag nach Feierabend ein bisschen. Wäre doch
gelacht, wenn ich das nicht schaffen würde.
    Ich will
die geheimnisvolle Welt der romantischen Augusta von Liesen betreten. Und das wird
mir gelingen!
     
     
     
     

2. Kapitel
     
    Auf Regen folgt immer Sonnenschein
     
    Ist das ein Mistwetter! Überall
auf meinem Weg von der U-Bahn zur Schneiderei lauern harmlos aussehende Pfützen,
die sich beim Hineintreten als beinahe knietief entpuppen. Meine Schuhe sind bereits
nach wenigen Schritten total durchnässt. Seit dem Gewitter vor zwei Tagen gießt
es ununterbrochen.
    Vicki liebt
das. Sie hockt mit Kimono und dicken Socken an ihrem Schreibtisch und nennt diese
Sintflut ›ideales Schreibwetter‹. Kein Wunder, denn erstens denkt sie sich
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