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Herbsttagebuch: Roman (German Edition)

Herbsttagebuch: Roman (German Edition)

Titel: Herbsttagebuch: Roman (German Edition)
Autoren: Kerstin Hohlfeld
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alte
Frau läuft über die Lichtung auf mich zu. In den Händen hält sie ein kleines, verziertes
Tannengesteck. Sie lächelt mir zu.
    »Guten Tag«,
grüße ich freundlich.
    Dann erkenne
ich sie. Es ist die Frau, die bezeugt hat, dass Kletzin einst Augusta von Liesen
gehörte. Ich hatte mit ihr reden wollen, doch sie war plötzlich im Gedränge verschwunden
gewesen.
    »Ein Besucher
bei unserer Augusta«, sagt sie und mustert mich freundlich. »Das ist selten.«
    »Ich bin
heute zum ersten Mal hier«, antworte ich. »Aber ich werde bestimmt öfter kommen.«
    »Sie sind
doch die junge Frau, der Gut Kletzin jetzt gehört?«
    »Nein, das
bin ich nicht. Das ist Vicki, meine Freundin.«
    »Darf ich
fragen, was Sie da gerade auf den Stein legen wollten?«
    »Es ist
ein Tagebuch«, sage ich und halte es ihr hin. »Genauer gesagt, es ist ihr Tagebuch – Augustas. Ich habe es gefunden und es … es hat mich hierher geführt.«
    »Darf ich
es sehen?«
    »Natürlich.«
    Die alte
Frau reicht mir das Tannengesteck und beginnt, in dem Buch zu blättern. »Sie war
eine liebe kleine Person«, sagt sie, klappt das Buch zu und drückt es kurz an ihr
Herz.
    »Haben Sie … sie gekannt?«, frage ich zögerlich und versuche,
schnell auszurechnen, ob das überhaupt sein kann.
    »Oh nein«, lacht die Frau. »Hör mal mein Kind, ich bin ziemlich
alt, aber sooo alt nun auch wieder nicht. Augusta ist zum letzten Mal hier gewesen,
als es mich noch gar nicht gab. Aber meine Familie verdankt ihr viel. Meine Mutter
ist eine geborene Johannsen. Sagt Ihnen der Name etwas?«
    »Ja, klar«,
rufe ich glücklich. »Die Verwalterfamilie! Augusta hat immer mit den Kindern der
Familie gespielt und an dem Tag, als ihr zukünftiger Mann kam, um sie von Kletzin
wegzuholen, da hat die Älteste ihr Bescheid gesagt, dass ihr Geliebter …« Erschrocken
halte ich inne. Das sind Augustas Geheimnisse. Darf ich sie überhaupt ausplaudern?
    »Magda,
die Älteste. Das war meine Mutter«, sagt die Frau und in ihren Augen blitzt es fröhlich
auf. »Ja, sie und Augusta haben dem Herrn von Oranienbaum ein schönes Schnippchen
geschlagen.«
    »Haben sie
das?«, frage ich und verstehe die Heiterkeit der Frau mitnichten.
    »Natürlich haben sie das«, fährt meine Gesprächspartnerin
fort. »Allerdings nicht sofort. Augusta musste zuerst zurück nach Berlin gehen,
aber sie setzte durch, meine Mutter als ihr Dienstmädchen mitnehmen zu dürfen. Sie
konnte ja niemandem in ihrem Haus vertrauen. Also ging Magda mit und sorgte dafür,
dass Augusta und Wendelin heimlich Briefe austauschen konnten. Augusta ließ ihm
ihren Schmuck zukommen, den er verkaufte, um Geld für eine Reise nach Genua zu haben.
Es musste schnell gehen. Sie hatten nur eine Woche bis zu Augustas Hochzeit. Von
Italien aus wollten sich die beiden nach Afrika einschiffen.«
    »Ist das
wahr?«, frage ich atemlos. »Augusta hat versucht zu fliehen?«
    »Sie hat
es nicht versucht. Sie ist geflohen – einen Tag vor ihrer verfluchten Hochzeit.«
    »Aber …
aber …« Ich verstehe gar nichts mehr.
    Die Frau
lacht wieder. »Sie hat geheiratet – ein Jahr später in Afrika, ihren geliebten Wendelin,
und die beiden haben dort bis zu ihrem Tod glücklich zusammen gelebt.«
    »Nein!«,
rufe ich aufgeregt. »Das stimmt nicht!«
    Ich sehe
den Eintrag in Vickis altem Familienstammbuch vor mir. ›Gestorben am …‹
    »Oh doch«,
widerspricht die Frau und etwas in mir weiß, dass sie die Wahrheit sagt.
    »Und wenn
sie nicht gestorben sind …«, sage ich zweifelnd.
    »… dann
lebten die beiden glücklich und zufrieden«, ergänzt die alte Frau zufrieden. »Nur,
dass wir hier kein Märchen erzählen, sondern eine wahre Geschichte.«
    »Das ist
der Hammer!«
    »So sagt
man das heute wohl. Damals hätte man Augustas Flucht einen handfesten Skandal genannt.
Das Ansehen der beiden Familien wäre ruiniert gewesen und deshalb griff man, mit
Oranienbaums Einverständnis, zu einer List und ließ die Hochzeit stattfinden, um
wenig später zu verbreiten, Augusta wäre plötzlich an einem nicht auskurierten Lungenleiden
verstorben.«
    »Eine Hochzeit
ohne Braut?«
    »Oh, es hat eine Braut gegeben. Unter einem dichten Schleier.
Die Ehe wurde im kleinsten Kreis geschlossen.«
    »Wer war
die Frau unter dem Schleier?«, frage ich und hege schon einen gewissen Verdacht.
    »Änni, Augustas
Dienstmädchen«, bestätigt die alte Dame. »Sie wird eine nicht unerhebliche Summe
für ihre Dienste und ihr Schweigen eingestrichen haben.«
    »Ist
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