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Herbstbringer (German Edition)

Herbstbringer (German Edition)

Titel: Herbstbringer (German Edition)
Autoren: Björn Springorum
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Stärke verwandelt hatte.
    Schon tat er wieder einen Schritt auf sie zu, stemmte sich entschlossen gegen den Wind.
    Emily schrie. Sie schrie Michael all ihre Wut, all ihre Angst, all ihre Stärke entgegen, legte die gesamte Verachtung ihresgleichen gegenüber in diesen Schrei.
    Und der Sturm stimmte ein.
    Mächtiges Gebrüll fegte über den Friedhof, ließ die Eisentore der Gruften ächzen und türmte das Laub höher auf als je zuvor. Kleinere Bäume wehrten sich vergeblich gegen den brausenden Wind und wurden mit splitterndem Krachen entwurzelt.
    Alles – Laub, Äste, Steine – wirbelte auf Michael zu, der von spiralförmigen Laubzyklonen umweht wurde und zunehmend Schwierigkeiten hatte, zur Gegenwehr anzusetzen.
    Wieder schloss Emily mit erhobenen Händen die Augen. Eine unfassbare Kraft durchströmte sie. Sie hatte alle Mühe, nicht die Kontrolle darüber zu verlieren und selbst fortgerissen zu werden.
    Ein gewaltiges Grollen holte sie in die sturmumtoste Wirklichkeit zurück. Sie sah gerade noch, wie Michael die Augen entsetzt aufriss, dann stürzte eine knorrige alte Eiche auf ihn herab. Emily konnte kaum glauben, was sie sah: Wie ein grauenerregender Atlas, der die Welt auf seinen Schultern trägt, hielt Michael dem dicken Baum stand, trug ihn auf Händen, die zwar zitterten, aber nicht nachgaben.
    »Ist das alles? Ist das deine Stärke?«, bellte er ihr entgegen. Und für einen kurzen Augenblick fragte sich Emily dasselbe. Dann war der Moment der Schwäche vorbei.
    Sie war nicht allein.
    »Nein«, sagte sie leise. »Das ist erst der Anfang.«
    Und dann brach die Hölle los. Von allen Seiten wirbelten Steine und ganze Grabplatten auf Michael zu. Noch hielt er dem Ansturm stand, wurde jedoch mit jedem Treffer schwächer. Etwas blitzte in seinen Zügen auf, das sich in all den Jahrhunderten noch nie dorthin verirrt hatte. Angst.
    »Das ist unmöglich«, presste Michael hervor. Seine Lippen waren ein bleicher Strich, seine Augen traten hervor. »So … so darf es nicht geschehen!«
    Steinbrocken prallten gegen seine Arme, brachen seine Knochen und schlugen in sein Gesicht ein. Er schrie auf, als sich ein aus der Erde gerissenes Steinkreuz in seine Seite bohrte und ihn endgültig zu Fall brachte.
    Schon war ein regelrechter Hügel aus Holz, Schutt und Grabkreuzen über ihm entstanden. Emily wusste nicht, ob ihn das getötet hatte. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie ihn überhaupt töten konnte. Wie tötete man einen Erzengel? Egal. Es verschaffte ihr Zeit.
    Sie eilte zu Jake, der beinahe gänzlich unter Laub begraben war. Sie sah sofort, dass es ihn geschützt hatte. Rings um seine reglose Form lagen faustgroße Steine und armdicke Äste, doch schien nichts den Schutzwall aus Laub durchbrochen zu haben.
    Der Wind schwoll ab, und mit ihm verschwand auch die Wärme. Emily wusste jedoch, dass sie dieses Gefühl der Geborgenheit, der Zugehörigkeit, nie wieder hergeben musste.
    Sie kniete sich neben ihn und befreite ihn behutsam von der welken Blätterdecke.
    »Jake, geht es dir gut? Sag doch was!«
    Ihre Hände berührten seine Wangen. Zunächst geschah nichts, dann flatterten seine Augenlider. Tiefe Erleichterung, wie sie sie noch nie zuvor gespürt hatte, durchströmte sie. »Emily«, wisperte er heiser und spuckte kleine Blätter aus. »Emily, es tut mir leid!«
    Sie griff seine Hand. »Mir auch. Mir tut es auch leid! Ich hätte auf dich hören sollen. Du hattest recht, mit allem.« Sie schluchzte. »Und jetzt ist es zu spät.«
    Er sah sie fragend an. Wie gut es tat, wieder in diese warmen Augen zu blicken!
    »Ich habe Blut getrunken, Jake! Ich bin eine von ihnen – und ab sofort eine Gejagte.«
    »Wenn’s weiter nichts ist.« Er rappelte sich auf. »Ich hab dir doch gesagt, dass du schon mehr auf Lager haben musst, um mich loszuwerden.«
    Sie blickte ihn einen Augenblick lang an, strich ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Da raschelte Laub hinter ihr. Sie fuhr herum, darauf gefasst, in Michaels gnadenlose Augen zu blicken.
    Was sie sah, erstaunte sie fast noch mehr. Es war Glöckchen, die unsicher auf die beiden zutrat. Erstmals sah Emily etwas anderes als Neid und Verachtung in ihren Zügen. Tränen standen ihr in den Augen, als sie flüsterte: »Es tut mir so leid – ich hatte ja keine Ahnung …«
    »Anne?«, keuchte Jake hinter ihr. »Anne – bist du das?«
    Verwirrt sah Emily zwischen Jake und Glöckchen hin und her. Anne? Die Anne, Sophies
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