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Herbstbringer (German Edition)

Herbstbringer (German Edition)

Titel: Herbstbringer (German Edition)
Autoren: Björn Springorum
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verfügen sie über entsetzliche Macht. Wieso also nicht die Macht eines Engels?«
    »Das ergibt doch keinen Sinn!«
    »Natürlich nicht. Aber was ergibt schon einen Sinn in dieser Welt?«
    Gar nichts. Das hatte Emily in den letzten Tagen gelernt. Wieder einmal wusste sie nicht, was sie als Nächstes tun sollte.
    Am Ende der Grabsteinallee hielt Ambrose inne. »Spürst du etwas?«, fragte er sie. »Spürst du andere Vampire?«
    »Ich weiß nicht«, gab Emily nach einigen angestrengten Momenten zu. »Sollte ich?«
    »Oh ja, das solltest du.«
    Emily erstarrte. Elias!
    »Ich muss schon sagen, Ambrose«, säuselte er, als er zwischen zwei gramgebeugten Engelsstatuen hervortrat, »ich bin ein wenig – wie soll ich sagen? Enttäuscht? Irritiert? Verwundert?«
    Emily konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Diesmal lag es jedoch nicht an jener eigentümlichen Faszination, die sie einst für ihn empfunden hatte. Sie war vielmehr erschüttert, welche Wandlung sein Wesen erfahren hatte, seit sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Sein Haar hing schlaff und strähnig herab, sein Gesicht wirkte knochig und ausgezehrt. Sie war angewidert. Angewidert von dieser Gestalt und von sich selbst, ihr derart bedingungslos gefolgt zu sein.
    »Rufus und Willie«, begann Ambrose stockend. »Wie konntest du nur? Wir haben auf dich gezählt!«
    »Wie ich konnte?« In einer verschwommenen Bewegung hatte er sich hinter Ambrose positioniert und riss dessen Kopf brutal in den Nacken. »Oh, das war ganz einfach. Ich zeige euch, wie einfach es war!«
    Emily konnte nicht so schnell wegsehen, wie es geschah. Ein Ruck, ein grässliches Geräusch wie von zerbrechenden feuchten Ästen. Ambroses Körper sackte in sich zusammen.
    Emily wich an die Steinwand zurück. Mit ausgestreckten Händen kam Elias auf sie zu. Hände? Es waren viel eher Krallen, gekrümmte, missgebildete Krallen mit langen gelben Fingernägeln. Blut klebte an ihnen – das Blut von Ambrose.
    »Ach, Herbstbringer«, seufzte er in gespielter Enttäuschung. »Ein wenig Vertrauen wäre schön gewesen. Nach allem, was ich für dich getan habe.«
    Nach all den Morden und all der Täuschung, wollte Emily erwidern. Doch ihre Stimme versagte. Panisch suchte sie nach einer Fluchtmöglichkeit.
    »Was willst du von mir?«, brachte sie endlich hervor.
    »Ganz das unschuldige Mädchen, nicht? Du magst vergessen haben, was du getan hast. Ich jedoch nicht. Keine Sekunde in all den verfluchten Jahren seit deiner Bestrafung habe ich es vergessen.«
    »Wovon redest du nur? Ich weiß nicht, was …«
    »Genug jetzt!«, knurrte er und kam auf sie zu. Er packte sie am Hals. »Jetzt wirst du trinken …«
    Da war sie wieder, diese eiskalte Wut, die in ihr emporstieg und alle anderen Sinne ausschaltete. »Nein!«, schrie sie und riss sich aus seinem eisernen Griff los. Es überraschte Emily wohl genauso wie Elias, dass sie sich tatsächlich befreien konnte, doch sie fing sich schneller als er und rannte los.
    Weit kam sie nicht.
    Ein grollender Schrei zerriss die Nacht. »Nosophoros!« Die Stimme hallte von den Grabsteinen wider, drang tief in ihr Inneres wie eine eiskalte Klinge.
    Emily erstarrte. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Elias vor der Gruft stehen geblieben war. Jemand bewegte sich auf sie zu – ein elegant gekleideter Mann. Seine Gesichtszüge wirkten auf Emily gleichwohl alt und zeitlos, jugendlich ebenmäßig und doch gezeichnet von Jahren. Seine Augen bargen eine Kälte, die Emily unweigerlich erschaudern ließ.
    Sie spürte, dass sie nicht das erste Mal in diese Augen blickte. Auch sie schien dem Fremden keine Unbekannte zu sein. Er warf ihr ein Lächeln zu, das ohne die stechende Mordlust in seinen Augen durchaus gewinnend gewirkt hätte.
    Es war Michael. Einer der Erzengel. Daran gab es nicht den geringsten Zweifel. Sie spürte sein Alter, seine Macht, wusste instinktiv, dass er schon auf dieser Welt gewesen war, als sie noch aus giftigen Dämpfen und grollenden Vulkanen bestanden hatte.
    Dann war Elias wieder bei ihr, packte sie und legte den Arm drohend um ihre Kehle. Sie zitterte.
    »Michael«, sagte er tonlos. »Du kommst zu spät. Sie gehört zu mir.«
    Michael war einige Meter vor ihnen stehen geblieben. Spöttisch blickte er von Elias zu Emily. Obwohl er leise sprach, verstand Emily jedes Wort. »Das also ist die Lösung dieses Rätsels. Sie gehört also zu dir? Bist du dir sicher, dass du nicht meinst, sie gehört dir? Ein kleiner, aber feiner Unterschied, findest du
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