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Heimspiel

Heimspiel

Titel: Heimspiel
Autoren: Wolfram Weimer
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Pass nicht gespielt, da schüttet der Kanzlerin ein Fan von hinten ein kaltes Bier ins Genick. Sie quiekt auf, Netzer schaut besorgt hinüber, sie hebt die Hände, als wolle sie sich ergeben, da bückt sich der Biergießer von hinten herunter und ruft:
    »’tschuldischung. Abä jetzt sin’ Se wenischtens getauft. Brost!«
    Netzer ist entsetzt, er sieht in dem Vorgang ein Attentat, ein Attentat auf sein ästhetisches Bewusstsein. Schon als Spieler hat er darauf geachtet, dass sein Trikot nicht beschmutzt wird. Aber Bier im Kragen! Der Kanzlerin! Das geht gar nicht. Netzer stößt den Dickleibigen kurzum zur Seite, der schwankt und fällt trunken in eine Gruppe Ultras. Die schubsen zurück und fangen sofort eine Rangelei an, die Sicherheitskräfte lösen Alarm aus, vor der Fankurve marschiert eine Polizeikette auf, was den gesamten Block in Wallung bringt. Ein gellendes Pfeifkonzert erschallt, zwei Jugendliche aus der Bembelraver-Gruppe zünden Leuchtkörper, Rauch verbreitet sich, der Stadionsprecher mahnt zur Mäßigung, noch mehr Polizei rückt an. Das Spiel läuft weiter, die Eintracht greift mit einer mutigen Offensive an.
    Während Netzer mit dem Drittschal noch versucht, den Nacken der Kanzlerin trocken zu tupfen, schreit die ihm zu:
    »Wir müssen weg!«
    Sie drängen durchs Gewühl zum Ausgang, und gerade als die Stimmung vollends zu kippen droht, schießt Frankfurt das 1:0. Binnen einer Sekunde schalten die Fans von Wut auf Jubel um, schlagartig springen sie herum und herzen sich, als gäbe es kein Morgen. Auch die Kanzlerin bekommt Wuchtumarmungen und Freudenschmatzer ab, dabei wird das klebrige Bier durch den strahlenden Bäcker aus Bad Camberg erst so richtig am Rücken festgepappt, und als sie das gerade noch spürt, schreien alle um sie herum: »Eintracht, Eintracht, Eintracht«, unmittelbar gefolgt von: »Schwarz-weiß wie Schnee, das ist die SGE. Wir holen den DFB-Pokal und werden deutscher Meister, Meister!«
    Jetzt erst tut sich eine kleine Lücke auf, um weiter zum Ausgang zu kommen. Doch da wird intoniert: »Wer nicht hüpft, ist Oxxenbacher, hey, hey, wer nicht hüpft, ist Oxxenbacher, hey, hey.« Alle um sie herum hüpfen, als wäre die Fankurve ein Trampolin. Hüpfen ist aber genau das, was die Kanzlerin nicht mag. Netzer hüpft bereits und signalisiert ihr, mitzumachen, sonst drohe neuer Ärger.
    »Mit Oxxenbachern«, erklärt er, »meinen sie Offenbacher, was in etwa so schlimm ist wie Kommunisten für Ihre Parteifreunde.«
    Erschrocken beginnt sie mit kniebeugeartigen Bewegungen, findet aber keinen Rhythmus.
    »Mädsche, hipf!«, ruft ein Bärtiger aus Bonames.
    Sie gibt ihr Bestes, da endlich zieht Netzer sie aus dem Gewühl zum Ausgang.
    Mit klebrigem Rücken, zerzaustem Haar und zittrig-hüpfweichen Knien bleibt sie an einer Säule stehen und atmet tief durch. Netzer plagt das schlechte Gewissen, die Kanzlerin in diese peinliche Situation gebracht zu haben.
    »Das tut mir leid. So viel Einblick in die Realität wollte ich nun auch wieder nicht.«
    »Das war völlig in Ordnung. Mir macht nur die Kameraüberwachung Sorgen.«
    »Die was?«
    »Die Kameraüberwachung der Polizei. Die haben alles genau aufgenommen. Ich hoffe nur, dass wir nicht zu erkennen sind!«
    Netzer ist einigermaßen verblüfft und überlegt sofort, wie er an die Bänder kommen könnte.
    »Aber«, beruhigt die Kanzlerin sofort, »selbst wenn wir annähernd erkennbar wären, würde niemand glauben, dass wir beide wirklich da waren«, und lacht dabei.
    Netzer merkt erleichtert – es hat ihr trotz allem Spaß gemacht. Sie eilen zurück Richtung Tiefgarage und sehen auf dem Flur vor den VIP-Lounges, wie sich ein Spitzenmanager der Lufthansa und der hessische Ministerpräsident laut unterhalten und Witze über Beckenbauer als Bundespräsident machen. Die Kanzlerin zieht ihren biergetränkten Fanschal über die Nase hoch und entschwindet am Arm von Netzer in die Katakomben der Arena. Oben hat Frankfurt gerade das 2:0 geschossen, und schon hüpfen sie wieder, denn: »Wer nicht hüpft, ist Oxxenbacher.«
    Am folgenden Vormittag trifft sich die Morgenrunde wieder im LE 7.101. Das Haar der Kanzlerin glänzt heute besonders, nach der Bierdusche in Frankfurt hatte sie zweimal gebadet. Der Regierungssprecher bemerkt die fliegenden Haare der Kanzlerin sofort. Er ist irritiert, eröffnet die Runde aber ungerührt mit der Presseübersicht.
    »Alles Beckenbauer. Kritiklos. Nur die taz mäkelt, dass der Kult ihr langsam auf die Nerven
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