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Heimliche Helden

Heimliche Helden

Titel: Heimliche Helden
Autoren: Ulrike Draesner
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Atemzug.
    »Die Schönheit der Erwarteten – ich erschrak – wie Schritt für Schritt aufgebraucht von der Schönheit der Erschienenen. Oder nur verborgen unter dem glänzenden Schwarz, das als zweite Haut auf den Bewegungen des Körpers aufgetragen war.« 92 Es folgt: ihr Spiel mit seinem Körper und seinem Blick auf ihr. Eigners Frauen teilen aus, mehr oder minder sanft. Der Erzähler zappelt als Fischlein im Netz.
    Schwimmbad Nummer drei
    In Italien sitzen Rolf und Theo und denken an Theos verstorbene Frau. Sie liebte ihr Leben lang Rolf, auf ihrem Sterbebett machte sie das Theo klar. Vor den Bergketten der Ebene blitzen Lichter, bewegte Spiegel. Man ist im Gespräch, aber nicht miteinander. Verschwunden sind in der Italienischen Begeisterung , Eigners Roman aus dem Jahr 2008, die Sprach- und Sprechkaskaden der jüngeren Figuren früherer Texte. Man altert, hat jemanden verloren. Unverändert die Dauer der Wahrnehmung, die Akribie der Beschreibung der Körper und ihrer Verkleidungen.
    Lehrer Weingart übt mit seinen Schülern in dem von britischen Besatzern betriebenen Bad noch immer deutschen Sport. Unvermittelt ist der junge Theo Bronken aus dem Nichtschwimmerbecken aufs Zehnmeterbrett gestiegen. Mit dem Helden der Jungengruppe, Tiefensolz, hat er darauf gewettet, dass er springt. Die Szene ist ein wunderbares Beispiel für ein Erzählverfahren, das ich in dieser Konsequenz nur von Kleist kenne: ein Wort ist gefallen – die Figur hat es selbst gesetzt, nun muss sie ihm nach.
    Bronken aber, Theo Bronken, wer es nicht mit eigenen Augen gesehen hat, wird es nicht glauben, nimmt keinen Abstand und tritt keinerlei Rückzug an. Er springt. Oder genauer: Er macht einen offenkundig zögerlichen, eigentlich wie vorprüfenden, dann aber eben doch unwiderruflich ausreichenden Schritt über die Turmkante, er lässt sich fallen. Fußsprung natürlich, was sonst. 93
    Bronken stand auf dem Brett. Bronken hatte Angst. Bronken besaß den Groschen nicht, den er Tiefensolz versprochen hatte, falls er kniff. All diese Gründe indes sind keine Begründungen des Sprunges, sie sind sein Vorwand.
    Eigners Figuren wollen kontrollieren, verlieren. Sie bewegen sich, bleiben fremd, sich selbst vertraut unvertraut. Vertriebene, per Deklaration, Selbst-Auftreiber, zäh. Bronken bot Tiefensolz die »sinnlose« Wette an – gab sein Wort –, um sich über eine Grenze zu zwingen. Er steigt auf den Turm, testet sich, sabotiert das Regelsystem in sich und den anderen.
    Ein Sprung in der Platte, in der Lebensmelodie, der Augenblick des Falls, aber auch: des freien Falls, der Schwerelosigkeit, der Entbindung und Überlassung. Kennen kann ein Autor das auch vom Schreiben: Man kontrolliert, muss aufgeben, taucht durch Stufen und Entwürfe. Man wird zäh, trainiert sich, indem man Rad fährt, während die eigenen Lebensbedingungen Rad fahren mit einem. Ein langer Flur, ein enges Zimmer, ein Balkon zwischen Autospuren und Gleisen. Eigner hat sich, mal sanft, mal minder sanft, nichts abtrotzen lassen. Ein Pathetiker, der, wie könnte es anders sein, dem Pathos nicht traut, aber es hervorlockt, jede seiner Hauptfiguren ein Kaliber für sich – da stecken Liebe, Leib und Krieg gleich im Wort. Mordlust, jemanden stoßen im entscheidenden Augenblick, provozieren und sich zusammenschlagen lassen. Freundschaft heißt Kampf, Krach, Gemeinheit. Dass man sich trifft, will durchaus doppelt verstanden sein. Da weiß die Sprache etwas vom Menschen; Eigner hört darauf und arbeitet es vor den Augen seiner Leser aus. Sanktionen umstellen das Lebensschwimmbecken: gechlort, verwaltet, von Bademeistern bewacht, von Kriegsfiguren und Kriegsgeschädigten benutzt. Rundum Sprungtürme: mögliche Steigerungen, inszenierte Sehnsüchte, der lockende Bruch. Der Preis: auf dem Startblock stehen. Schnellen, versinken, gewinnen, untergehen: ein Atemzug. Der Preis: Sturz und Schmerz und eine Einsamkeit, die andere sich auch noch ansehen, und doch – da, im Fall, erscheint er, jener kleine ewige segelnde Augenblick, die spezifisch Eignersche literarische Figur der Himmelfahrt
    nach unten .
    89 Gerd-Peter Eigner Die langen zwölf Stunden der Kindheit , Flensburg 1982, unpaginiert (Hörspiel)
    90 Gerd-Peter Eigner, Brandig , Hanser, München 1985, S. 15f.
    91 Gerd-Peter Eigner, Brandig , Hanser, S. 107
    92 Gerd-Peter Eigner, Brandig , Hanser, S. 107
    93 Gerd-Peter Eigner, Die italienische Begeisterung, Kiepenhauer & Witsch, Köln 2008, S. 15



SPRÜNGE INS UNBEKANNTE
    Zu
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