Heimat
habe ich überhaupt nicht drüber nachgedacht, ich habe sofort gesagt, ich möchte da hin«, erzählt die 58-Jährige. Die Lehrerin wählte ein anderes Kind aus. »Ich habe so geheult. Meine Mutter hat es nicht verstanden, mein Vater hat es nicht verstanden, und ich konnte es auch nicht erklären: Ich wollte da unbedingt hin.«
Fünf Jahre später ging es von vorne los, diesmal fiel die Entscheidung über ein ganzes Auslandsjahr in den USA. Zwei starke Bewerber und ein Auswahlgespräch vor dem gesamten Lehrerkollegium. Aber das Problem war nicht die Nervosität vor den Fragen, waren nicht die schlotternden Knie vor den ergrauten Honoratioren: Es war die Angst, zuhause bleiben zu müssen. »Ich weiß noch genau, wie ich dachte, wenn du es jetzt nicht schaffst, wenn du es jetzt nicht schaffst - dann kommst du hier nie weg.«
Nie ist eine lange Zeit für eine 16-Jährige, und vielleicht hätte sich ja doch noch eine Gelegenheit gefunden, die Welt zu sehen. Aber tatsächlich
überzeugte Mimi ihre Lehrer und durfte schon bald ihre Koffer packen. Seitdem scheint sie die nie wieder richtig ausgepackt zu haben, zumindest mussten sie nie für länger auf den Dachboden. Mimi hat in den USA gelebt, in Paris, in Brüssel, in Mexiko, in Peking. Sie spricht Englisch, Französisch, Spanisch, Chinesisch und Ansätze von Khmer. Denn gerade ist sie von einem zweijährigen Aufenthalt in Phnom Penh zurückgekommen, wo sie als Entwicklungshelferin kambodschanischen Rechnungsprüfern das Prüfen beibrachte.
Ihre Erzählung von diesen zwei Jahren klingt einigermaßen abschreckend - die ständige Hitze, die modrige Wohnung, die Dengue-Mücken, das fehlende Grün, die unergründliche Sprache, die Korruption, das aus ihrer Sicht verquere Gesellschaftssystem Kambodschas. Sie nennt es »dieses komische Land«. Trotzdem, wäre es nur möglich gewesen, sie wäre ohne Wimpernzucken geblieben. »Ich hätte gerne noch ein Jahr gehabt«, sagt sie. Aber die Beurlaubung in ihrer deutschen Behörde lief aus. Nun sitzt sie wieder seufzend in ihrer Küche in Deutschland und überlegt, wie und wann sie sich ihren großen Traum wahr machen kann: Sie will nach China übersiedeln.
Mimi ist eine zarte Person, kerzengerade steigt sie mit ihren 58 Jahren die vier Treppen in ihre Altbauwohnung, ohne auch nur außer Puste zu geraten. Sie trägt die Haare kurz, das, was sie einen Jungsschnitt nennt, und die praktischen Schuhe ohne Absätze. Umhängetasche quer über die Brust, den Schirm in der Hand und los geht es. Die Juristin sagt über sich selbst, sie habe und schätze preußische Tugenden, Pünktlichkeit, korrekte Abrechnungen, schriftliche Verträge. Außerdem mag sie die deutsche Sprache, sie ist stolz auf Kant und hat eine Schwäche für den »Tatort«. Wie um Himmels willen konnte es soweit kommen, dass ausgerechnet die kleine Mimi aus Berlin-Spandau in die weite Welt zog?
Sie sagt, sie könne das nicht recht erklären, damals nicht und heute nicht. »Ich habe mich nicht unwohl gefühlt«, beteuert sie. »Ich wollte einfach sehen, wie es woanders war.« Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht.
Denn über ihr allererstes Jahr im Ausland, damals 1968/69 bei einer Gastfamilie in den USA sagt sie auch: »Das war so ein Stück
Heimat. Die hatten etwas, was meine Eltern nicht hatten: Die haben mich gemocht.« Als ihr Gastvater feststellte, dass das Mädchen aus Deutschland bis tief in den Abend über den High-School-Büchern brütete, sagte er: »Du siehst blass aus, geh lieber ins Bett.« So etwas kannte Mimi nicht. »Das hat mein Vater nie gemacht. Ich sah blass aus? Meinen Vater hat das nicht interessiert und meine Mutter auch nicht.«
Spandau in den 50er- und 60er-Jahren, das hieß Enge und Langeweile, so beschreibt sie es zumindest ein halbes Jahrhundert später. Westberlin, die Frontstadt im Kalten Krieg, die Weltstadt, in der die Promis und Stars über den Ku’Damm flanierten und in Schwarzweiß über die Berlinale-Leinwände flimmerten - all das war unendlich weit weg. Spandau gehörte zwar ganz offiziell zum Westsektor der Stadt, aber trotzdem sagten die Spandauer, wenn sie sich denn einmal aufmachten: »Wir fahren nach Berlin.« Eine Weile trug Mimi eine Zahnspange und musste einmal die Woche mit der Straßenbahn 76 von Spandau nach Charlottenburg - es hört sich an, wie eine Weltreise.
Die Familie wohnte, weil der Vater aus der DDR geflohen und das Geld knapp war, zur Untermiete bei den Großeltern in der Nähe der Rieselfelder
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