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Heimat

Heimat

Titel: Heimat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verena Schmitt-Roschmann
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Gestaltungsmöglichkeiten der eigenen Umwelt wochenends mit Rasenmähern, Laubbläsern und anderen Utensilien aus dem Gartenmarkt armseliger Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln frönt. »Bau- und Gartenmärkte sind Orte nostalgischer Verbeugung, deren semiologisches Zentrum der Mythos der Eigengestaltbarkeit der Heimat bildet«, schreibt Hecht. 34

    Jenseits aller Polemik ist aber klar, dass Hunderttausende die Begegnung mit der Natur im allgemeinen und mit der Erde im besonderen als tröstlich und befriedigend empfinden - sei es als Freizeitsportler oder Schrebergärtner. Sogar die selbstgezogenen Cocktailtomaten vom Balkon wirken noch irgendwie anheimelnd und heimatstiftend. »Der Garten ist der Lebensraum, der dem Menschen geradezu konstitutionell angemessen ist«, meint der Theologe Friedrich Schorlemmer, der auf das Sinnbild des »Garten Eden« als »erstem Ökohof« verweist. »Der Garten gehört zu den Urmythen wie zu den Ursehnsüchten des Menschen - als Natur und Kultur, als ein umgrenztes Zuhause in einer entgrenzten Welt.« 35

    Ob Stadt oder Land - einig scheinen sich Umweltpsychologen und Soziologen, dass die Verbundenheit etwas mit Eigenart und Einzigartigkeit einer Umgebung zu tun hat: Nötig sind mentale und emotionale Anknüpfungspunkte. Die Landschaft sei »Erlebnisträger«, meint Buchwald. »Diese emotionale Besetzung ist umso intensiver und in der Erinnerung umso dauernder verankert, je charakteristischer, je unverwechselbarer die Landschaft ist. (…) Monotonie und Uniformität lassen keine Identifizierung mit einem Landschaftsraum, keine heimatliche Verbundenheit zu.« 36

    Besonders stark wirken können solche Bezugspunkte in einer Zeit der Langsamkeit und der nach allen Seiten offenen Wahrnehmungskanäle: der Kindheit. »Sie ist die Phase, in der ein unbefragtes Recht auf Zeit besteht, der Abwesenheit von Fremdbestimmung und Willkür, einer sinnvollen Ordnung«, schreibt der New Yorker Germanist Bernd Hüppauf. »Das spätere Erlebnis von Regionen und Landschaften mag intensiv sein, zur Heimat werden sie nur begrenzt.« 37

    Die Autoren der Rheingold-Studie ziehen aus ihren tiefenpsychologischen Interviews ähnliche Schlüsse, wobei sie sich weniger auf die räumliche als auf die biografische Dimension konzentrieren. Heimatliche Gefühle hätten immer etwas »Rückwärts-Gerichtetes« und seien mit einer melancholischen Sehnsucht verknüpft, heißt es da. »Psychologisch betrachtet ist dieses Gefühl der Ur-Geborgenheit in der frühesten Kindheit verortet: Das kleine Kind trennt noch nicht zwischen Innen und Außen, zwischen ‚Ich’ und Umwelt und lebt in einer ganzheitlichen seelischen Wirklichkeit, in der sich anfangs alles um Aneignung und Befriedigung des eigenen Wollens dreht«, heißt es in der Studie. 38 »Erwachsenwerden heißt, sich vom unmittelbaren und ganzheitlichen Gefühl der frühesten Kindheit wegzubewegen. Heimat ist psychologisch betrachtet damit eine Reminiszenz an das kindliche Gefühl, eins mit der Welt zu sein.«

    Aus Sicht der Psychologen muss die große Sehnsucht, diese kindliche emotionale Einheit wieder zu erreichen, unerfüllt bleiben. Nur für kurze Momente sei sie wiederbelebbar, das Gefühl scheitere an der eben nicht mehr ganzheitlichen Realität. »Das ständige Verfehlen dieser großen Sehnsucht erklärt die immer mitschwingende Melancholie.« Trotzdem oder gerade deswegen versuchen nach dieser Lesart Menschen beständig,
die unerfüllbare Sehnsucht zu stillen. Die Rheingold-Psychologen glauben sogar: »Auch wenn Menschen auswandern, suchen sie unbewusst letztendlich nach dem verloren gegangenen Gefühl aus der eigenen Kindheit.« 39 Angesichts mancher Lebensgeschichte scheint diese Interpretation allerdings reichlich gewagt.

3. Die kleine Mimi auf großer Fahrt: Flucht aus der Enge in die Anti-Heimat
    Die kleine Mimi zögerte keine Sekunde. Als ein Bekannter ihres Großvaters sie fragte, ob sie mitfährt, die Welt anschauen, stieg die Dreijährige sofort ins Auto. »Ich wäre mit dem überall hingefahren«, sagt sie heute, doch ein klein wenig verwundert über das wagemutige Kind in ihr. »Meine Mutter war schwer sauer.« 40 Mimi lacht ein kleines entschuldigendes Lachen, eine späte versöhnliche Geste in Erinnerung an ihre geplagte Mutter.

    Denn seit dem gescheiterten Ausflug mit dem fremden Mann ging es immer so weiter, mehr als ein halbes Jahrhundert lang. In der fünften Klasse durfte ein Kind für einen Monat zum Sprachelernen nach England. »Da

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