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Heidi - Buch 1 und 2 - Illustrierte Ausgabe

Heidi - Buch 1 und 2 - Illustrierte Ausgabe

Titel: Heidi - Buch 1 und 2 - Illustrierte Ausgabe
Autoren: Johanna Spyri
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hatte ihn erkannt, und plötzlich stieg ein neuer Gedanke in ihr auf. Sollte der Peter die Blumen heruntergebracht haben und nun aus lauter Scheu und Bescheidenheit so heimlich vorbeischleichen wollen? Nein, das durfte nicht sein, er sollte doch eine kleine Belohnung haben.
     
    »Komm, mein Junge, komm hier heraus, frisch, ohne Scheu!« rief die Großmama laut und steckte ein wenig den Kopf zwischen die Bäume hinein.
     
    Starr vor Schrecken stand der Peter still. Er hatte keine Widerstandskraft mehr nach allem Erlebten. Er fühlte nur noch das eine: Jetzt ist’s aus! Alle Haare standen ihm aufrecht auf dem Kopf, und farblos und entstellt von höchster Angst trat der Peter hinter den Tannen hervor.
     
    »Nur frisch heran, ohne Umwege«, ermunterte die Großmama. »So, nun sag mir mal, Junge, hast du das gemacht?«
     
    Der Peter hob seine Augen nicht auf und sah nicht, wohin der Zeigefinger der Großmama wies. Er hatte gesehen, daß der Öhi an der Ecke der Hütte stand und daß dessen graue Augen durchdringend auf ihn gerichtet waren, und neben dem Öhi stand das Schrecklichste, das der Peter kannte, der Polizeidiener aus Frankfurt. An allen Gliedern zitternd und bebend, stieß der Peter einen Laut hervor, es war ein »Ja«.
     
    »Nanu«, sagte die Großmama, »was ist denn das Schreckliche dabei?«
     
    »Daß er… daß er… daß er auseinander ist und man ihn nicht mehr ganz machen kann«, brachte mühsam der Peter heraus, und nun schlotterten seine Knie so, daß er fast nicht mehr stehen konnte. Die Großmama ging nach der Hüttenecke hinüber.
     
    »Mein lieber Öhi, rappelt es denn wirklich ernstlich bei dem armen Buben?« fragte sie teilnehmend.
     
    »Gar nicht, gar nicht«, versicherte der Öhi. »Der Bube ist nur der Wind, der den Rollstuhl fortgejagt hat, und nun erwartet er seine wohlverdiente Strafe.«
     
    Das konnte nun die Großmama gar nicht glauben, denn sie meinte, boshaft sehe der Peter doch ganz und gar nicht aus, und sonst hätte er doch keinen Grund gehabt, den so notwendigen Rollstuhl zu zerstören.
     
    Aber dem Öhi war das Geständnis nur die Bestätigung eines Verdachtes gewesen, der gleich nach der Tat in ihm aufgestiegen war. Die grimmigen Blicke, die der Peter von Anfang an der Klara zugeworfen hatte, und andere Merkmale seiner Erbitterung gegen die neuen Erscheinungen auf der Alp waren dem Öhi nicht entgangen. Er hatte einen Gedanken an den andern gehängt, und so hatte er genau den ganzen Gang der Dinge erkannt und teilte ihn jetzt der Großmama in aller Klarheit mit. Als er zu Ende war, brach die Dame in große Lebhaftigkeit aus.
     
    »Nein, mein lieber Öhi, nein, nein, den armen Buben wollen wir nicht weiter strafen. Man muß billig sein. Da kommen die fremden Leute aus Frankfurt hereingebrochen und nehmen ihm ganze Wochen lang das Heidi weg, sein einziges Gut und wirklich ein großes Gut, und da sitzt er allein Tag für Tag und hat das Nachsehen. Nein, nein, da muß man billig sein; der Zorn hat ihn überwältigt und hat ihn zu der Rache getrieben, die ein wenig dumm war, aber im Zorn werden wir alle dumm.«
     
    Damit ging die Großmama zum Peter zurück, der noch immerfort bebte und schlotterte.
     
    Sie setzte sich auf die Bank unter die Tanne und sagte freundlich: »So, nun komm, mein Junge, da vor mich hin, ich habe dir etwas zu sagen. Höre auf zu zittern und zu beben und hör mir zu, das will ich haben. Du hast den Rollstuhl den Berg hinuntergejagt, damit er zerschmettere. Das war etwas Böses, das hast du recht wohl gewußt, und daß du eine Strafe verdientest, das wußtest du auch, und damit du diese nicht erhaltest, hast du dich recht anstrengen müssen, daß keiner es merke, was du getan hattest. Aber siehst du: Wer etwas Böses tut und denkt, es weiß keiner, der verrechnet sich immer. Der liebe Gott sieht und hört ja doch alles, und sobald er bemerkt, daß ein Mensch seine böse Tat verheimlichen will, so weckt er schnell in dem Menschen das Wächterchen auf, das er schon bei seiner Geburt in ihn hineingesetzt hat und das da drinnen schlafen darf, bis der Mensch ein Unrecht tut. Und das Wächterchen hat einen kleinen Stachel in der Hand, mit dem sticht es nun in einem fort den Menschen, daß er gar keinen ruhigen Augenblick mehr hat. Und auch mit seiner Stimme beängstigt es den Gequälten noch, denn es ruft ihm immer quälend zu: ›Jetzt kommt alles aus! jetzt holen sie dich zur Strafe!‹ So muß er immer in Angst und Schrecken leben und hat keine Freude
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