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Hautnah

Hautnah

Titel: Hautnah
Autoren: Julia Crouch
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Bewegung waren die Blätter der großen Bäume am Straßenrand, die sich im Wind wiegten, und das einzige Geräusch war das Zirpen und Summen unsichtbarer Insekten. In der Ferne hallte Hundegebell zwischen den Hügeln wider. Dann hörte sie, von dem Ende der Straße her, das sie nicht einsehen konnte, das brummende Motorengeräusch eines Trucks. Ihr Herzschlag nahm den Rhythmus auf.
    Das ist eine Invasion, schoss es ihr durch den Kopf. Die Achse des Bösen – eine Formulierung, die sie ihre gesamte Kindheit hindurch im Fernsehen gehört hatte, ohne sie jemals so ganz zu verstehen – ist in die USA eingefallen. Und das ausgerechnet an ihrem ersten Morgen hier. Sie hakte das Fliegengitter aus, beugte sich aus dem Fenster und richtete das Objektiv ihrer Kamera auf den Fluchtpunkt der langen, schnurgeraden Straße. Das Brummen wurde lauter, bis schließlich ein Lastwagen in Sicht kam, der von einem flimmernden Stecknadelkopf auf dunstigem Asphalt langsam zu einem großen, staubigroten Etwas wuchs. Bella drückte den Auslöser, kurz bevor das Gefährt auf Höhe ihres Hauses war. Jetzt konnte sie auch sehen, dass es sich um einen großen Tanklaster handelte, mit der Aufschrift GOT MILK? in verblichenen Buchstaben an der Seite. Der Fahrer war alles andere als eine feindliche Eroberungsmacht. Er schien ausschließlich an dem Sandwich interessiert, das er sich gerade in den Mund schob. Bella zoomte näher heran und knipste ihn im Moment des Abbeißens mit sperrangelweit geöffnetem Mund.
    Dann war da vielleicht gar nichts gewesen. Nur wieder einer ihrer üblichen Alpträume.
    Sie ließ sich zurück aufs Bett fallen, dessen Kastenfedern ein Kreischen von sich gaben, das dem Soundtrack eines Schmuddelfilms hätte entstammen können. Irgendwo auf dem Hügel hinter dem Haus wieherte ein Pferd.
    »New York, New York, it’s a helluva town«, sang sie.
    Sie hatte ihrer Mutter nicht wirklich geglaubt, als diese ihr erklärt hatte, dass sie nicht in Sichtweite irgendwelcher Wolkenkratzer wohnen würden. Aus unerfindlichen Gründen – wahrscheinlich hatte es mit den kurz zuvor bestandenen Abschlussprüfungen nach der Zehnten und der darauf folgenden Party zu tun – hatte sie sich nicht die Mühe gemacht, auf der Landkarte nachzusehen und sich einen Eindruck über die, wie sie nun feststellte, enorme Größe und ländliche Prägung des Staates New York zu verschaffen.
    Sie brannte darauf, ihre neue Umgebung zu erkunden, also stand sie wieder auf und holte ihren Kulturbeutel aus dem Koffer. Während sie im Zimmer umherging, fasste sie einen Entschluss. Hier, weit weg von ihren Altersgenossen, weit weg von dem Bild, das alle von ihr im Kopf hatten, würde sie eine neugeborene Bella sein, die wahre Bella. Sie würde die Vergangenheit begraben, die Grenze vom Mädchen zur Frau überschreiten, um dann im Herbst glücklicher, weiser und bereit für ein neues Leben auf dem College nach Hause zurückzukehren. Und sie würde eine spektakuläre Mappe mit Fotos von ihrem Amerika-Aufenthalt zusammenstellen.
    Das Bad lag gegenüber von ihrem Zimmer, doch kaum war sie drinnen, stellte sie verärgert fest, dass es zwei Türen hatte: die, durch die sie gekommen war, und eine zweite, die ins Schlafzimmer ihrer Eltern führte. Keine der beiden hatte ein Schloss. Das hieß, dass sie, als einzige junge Frau in der Familie, sich ein System ausdenken und es den anderen erklären musste, damit niemand reingeplatzt kam, wenn sie im Bad war. Sie warf einen Blick ins Elternschlafzimmer und sah ihren Vater, der auf dem Rücken lag und schnarchte. Das teils rote, teils bereits ergraute Kraushaar auf seiner Brust sah aus wie eine lauernde Katze. Sie war heilfroh, dass das einzige Laken auf dem Bett seine Körpermitte bedeckte, denn darunter war er ganz eindeutig nackt. Sie zog die Tür fest zu und klemmte dann noch einen alten Stuhl, der neben der Wanne stand, unter die Klinke der Tür zum Flur.
    Die Wanne starrte vor Dreck. Sie war alt und klein, hatte eine gebogene Kante und innen einen rostroten Wasserrand. Aus den Armaturen war Wasser in bräunlichen Schlieren über die stumpfe Emaille getropft. Fürs Erste würde sie mit dem angeschlagenen Duschkopf vorliebnehmen, aber sie musste definitiv ein ernstes Wort mit ihrer Mutter reden. Auf gar keinen Fall würde sie einen ganzen Sommer lang auf ihr tägliches Vollbad verzichten. Aber sich in die Wanne zu legen kam bei deren gegenwärtigem Zustand genauso wenig in Frage.
    Während sie unter dem schwachen
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