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Haut, so weiß wie Schnee

Haut, so weiß wie Schnee

Titel: Haut, so weiß wie Schnee
Autoren: Bastei Lübbe
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bauen das Schloss aus«, flüsterte Jette, ohne die Augen vom Spion zu lassen. Jetzt hörten die Mädchen ein Klopfen. Dann etwas, das wie ein Schlag gegen Holz klang. Danach war alles still.
    »Die Tür ist offen. Sie gehen rein«, fragte Jette leise.
    Die drei Freundinnen schauten sich verdutzt an.
    »Versteht ihr das?«, flüsterte Jette.
    »Da wohnt ein Musiklehrer«, sagte Charlie. »Der ist ganz neu hier eingezogen.«
    Nach ein paar Minuten hörten die Mädchen schwere Schritte im Hausflur und ächzende Männerstimmen.
    »Die tragen ein Sofa runter«, sagte Jette am Spion.
    »Wisst ihr, was ich glaube?«, sagte Charlie langsam. »Die räumen die falsche Wohnung aus. Der Nachbar heißt auch Schmidt. Aber mit ›dt‹, nicht mit ›tt‹ wie wir.«
    »So blöd kann man doch nicht sein«, sagte Klara.
    »Meine Mutter hat unser Namensschild schon abmontiert. Wahrscheinlich haben die an der Tür nebenan nur ›Schmidt‹ gelesen und sind rein.«
    »Ist denn da keiner von der Wohnungsgesellschaft dabei?«, fragte Jette.
    »Keine Ahnung«, antwortete Charlie. »Die wissen vielleicht auch nur, dass die Wohnung irgendwo im zweiten Stock ist.«
    Charlie grinste, und Klara musste so sehr lachen, dass sie sich verschluckte.
    »Mädels, ich schlage vor, wir legen uns wieder auf den Balkon«, sagte Jette. Sie stolzierte nach draußen, streifte sich die Kleidung ab, schaute ihre Freundinnen triumphierend an und fragte: »Wie war der neue Nachbar denn so?«
    Jette und Charlie legten sich wieder auf die Liegestühle. Klara stellte sich ans Geländer und verfolgte das Treiben unten auf der Straße. Hin und wieder brach eine der drei Freundinnen in Gelächter aus.
    »Jetzt bringen sie das Klavier«, sagte Klara.
    Jette sprang auf. Tatsächlich. Auf dem Bürgersteig stand ein hellbraunes Klavier. »Bin gleich wieder da«, sagte sie ohne weitere Erklärung und lief die Treppe hinunter.
    Nach dem schweren Klavier hatten die Möbelpacker eine Pause eingelegt und sich auf ein paar herumstehende Stühle gesetzt. Die drei Männer waren kräftig, aber auf ihren Stirnen glänzte der Schweiß.
    »Ein schönes Stück«, sagte Jette und ließ ihre Hände über das edle Klavier gleiten.
    »Räumungsklage«, sagte einer der Männer. »Wir schaffen alles raus. Schon komisch. Die Leute haben ein teures Klavier, können aber die Miete nicht zahlen. Kommt öfter vor, als man denkt.«
    Jette drückte vorsichtig eine Taste. Ein klarer Ton erklang, der sich auf der anderen Straßenseite verlor. Ein Vogel antwortete.
    »Haben Sie vielleicht einen Stuhl?«, fragte sie.
    »Natürlich«, sagte der Mann und rückte ihr einen Stuhl zurecht.
    Jette setzte sich, ließ die Finger sacht über die Tasten gleiten und sagte mit lauter Stimme: »Für Charlie!« Dann schlug sie die ersten Akkorde aus »The Sinking« an, der Musik, die das Orchester im Titanic-Film beim Untergang des Schiffes gespielt hatte. Gleich zu Beginn kamen die hämmernden,bedrohlichen Töne, dann die dramatische Melodie des letzten Aufbäumens, schließlich die schrägen Klänge, als das Schiff barst. Jette hatte die Klavierversion vor längerer Zeit einmal gelernt und fast nichts vergessen. Nicht dass sie eine besonders gute Klavierspielerin war. Aber ihre Mutter war Opernsängerin und spielte leidenschaftlich gern, und so hatte Jette zwangsläufig ein bisschen spielen gelernt. Nachdem der letzte Ton verklungen war, stand sie auf, deutete eine Verbeugung an und ging zurück ins Haus.
    Charlie und Klara waren nicht mehr auf dem Balkon. Jette fand sie im Wohnzimmer auf dem Sofa. Charlie hatte ihr Gesicht in ein Kissen vergraben und weinte.
    »Was ist denn los?«, fragte Jette bestürzt.
    »Das war zu viel«, flüsterte Klara, und ihre Stimme klang vorwurfsvoll.
    »Oh nein, das wollte ich nicht.« Jette kniete sich erschrocken vor ihrer Freundin auf den Boden. »Ich dachte, das freut dich.« Charlie schluchzte noch etwas lauter. Jette streichelte ihr vorsichtig über den Kopf. »Na komm.« Doch Charlie weinte nur noch mehr. »Du hättest die Männer unten sehen sollen«, versuchte Jette es weiter. »Sahen selbst aus wie drei kleine Schränke …« Charlie musste ein bisschen lachen. »Und bald müssen sie den ganzen Kram wieder hochtragen«, fügte Jette grinsend hinzu. Charlie weinte und lachte jetzt gleichzeitig.
    »Soll ich Eis für uns kaufen gehen?«, fragte Jette.
    »Ja, gute Idee«, sagte Klara.
    Eine Viertelstunde später saßen die drei Mädchen erneut in den Liegestühlen, jede mit
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