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Haut, so weiß wie Schnee

Haut, so weiß wie Schnee

Titel: Haut, so weiß wie Schnee
Autoren: Bastei Lübbe
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sagte Charlie kurz angebunden.
    »Aber findest du es nicht komisch, hier so zu warten?«, wandte Jette ein. »Erinnert mich irgendwie an das Orchester auf der Titanic. Die haben auch bis zum bitteren Ende gespielt.«
    »Aber auf der Titanic sah es etwas anders aus als hier«, sagte Charlie bitter und machte eine Handbewegung in Richtung der Zimmer. Alles, was irgendwie wertvoll war, hatte der Gerichtsvollzieher bereits vor Wochen mitgenommen. Auch Sachen von Charlie. »Wir bleiben. Bis die Titanic untergeht, okay?«, sagte Charlie.
    Jette nickte und ließ sich wieder in ihren Liegestuhl fallen. Wenn Charlie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war sie nur schwer davon abzubringen.
    Sie erinnerte sich noch gut daran, wie Charlie ihr das erste Mal aufgefallen war. Sie waren damals in der fünftenKlasse gewesen und hatten in der ersten Stunde eine Biologiearbeit geschrieben. Jette gab als Erste ab und ging aus dem Klassenzimmer. Draußen vor der Tür stand ein schmales Mädchen mit glatten blonden Haaren und einem fein geschnittenen Gesicht. Charlie, ihre Klassenkameradin. Sie hatte verschlafen und war gerade erst gekommen. Für die Klassenarbeit war es natürlich viel zu spät, und Charlie weinte. Jette hatte sie gefragt, ob ihre Mutter sie denn nicht geweckt habe. Charlie hatte den Kopf geschüttelt und fand die Frage offensichtlich ziemlich blöd. Aber dann hatte Jette ihr breit und ausführlich erzählt, wie unglaublich missraten der Regenwurm aussah, dessen Körperteile sie in der Arbeit beschriften sollten und den der Lehrer eigenhändig gemalt hatte. Sie hatte immer noch einen draufgesetzt, bis Charlie schließlich lachen musste. Und seit diesem Tag waren sie Freundinnen.
    »Hört ihr das?«, fragte Klara auf einmal.
    Jette fuhr erschrocken hoch. Der Lärm kam von der Straße. Sie sprang auf und blickte über das Geländer. Unten vor der Wohnung parkte ein Umzugswagen. Charlie saß wie versteinert in ihrem Liegestuhl.
    »Sie kommen«, sagte Jette. Aus dem Wagen stiegen drei Männer. »Da sind noch mehr Leute in einem anderen Auto.«
    »Vielleicht der Gerichtsvollzieher?«, sagte Klara.
    Jette zuckte mit den Schultern. Charlie sagte immer noch nichts.
    »Charlie, zieh dir was an. Die klingeln gleich«, sagte Jette. Charlie streifte sich mechanisch T-Shirt und Rock über.
    »Wie auf der Titanic!«, sagte Jette und hakte sich bei ihr ein.
    »Okay.« Charlie lächelte schwach.
    Die drei Mädchen gingen in den Flur und lauschten. Nichts. Dann klingelte es. Das schrille Geräusch kam den Mädchen lauter vor als sonst. »Ich mach schon«, sagte Jette.
    Charlie sah ihre Freundin dankbar an. Jette nahm die Dinge in die Hand. Sie hatte etwas Furchtloses an sich. Wie in der Nacht am See, als sie allein in den dunklen Wald gegangen war. Sie stand an der Tür, sehr aufrecht, eine Augenbraue spöttisch in die Höhe gezogen. Sie würde die Tür öffnen und stolz und schön im Eingang stehen. Wer auch immer auf der anderen Seite Einlass begehrte, würde sich als Bittsteller fühlen und sich erst einmal gründlich verhaspeln. Jette war ihr ein Rätsel. Woher nahm sie dieses Selbstvertrauen? Immerhin war sie, wenn man so wollte, ein Findelkind. Ihre Mutter hatte sie ein paar Tage nach der Entbindung in der Klinik zurückgelassen. Im Alter von wenigen Wochen war Jette dann zu neuen Eltern gekommen.
    »Du siehst aus wie eine Königin«, war es Charlie einmal rausgerutscht. Jette hatte gelacht und gesagt: »Nein, wie eine Prinzessin. Wie die Tochter einer Königin!« Und sie hatte den Kopf noch etwas höher getragen, obwohl das kaum noch möglich war. Ihre leibliche Mutter war eine drogenabhängige Frau, von der niemand wusste, wo sie war und ob sie überhaupt noch lebte. Und Jette bezeichnete sie glatt als »Königin«.
    Es klingelte wieder. Doch irgendetwas stimmte nicht.
    »Halt!«, rief Charlie. »Das war nicht bei uns! Die klingeln nicht bei uns.«
    »Wie, nicht bei uns?«, fragten Jette und Klara fast gleichzeitig.
    »Das ist die Klingel vom Nachbarn«, sagte Charlie und zuckte die Achseln.
    Dann war es still.
    »Der ist nicht da«, sagte Charlie.
    Nach einer Weile hörten die Mädchen, wie es überall im Haus klingelte, auch bei ihnen. Irgendjemand drückte den Türöffner. Mehrere Leute kamen die Treppe hoch und blieben auf Charlies Etage stehen.
    Jette spähte durch den Spion. Ein Mann klingelte an der Tür nebenan. Keine Reaktion. »Öffnen Sie bitte!«, sagte der Mann nach einer Weile zu einem seiner Begleiter.
    »Die
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