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Haus der Lügen - 8

Haus der Lügen - 8

Titel: Haus der Lügen - 8
Autoren: David Weber
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gemacht, nicht von Wasser, das sich mit unendlicher Geduld stets neue Wege suchte. Hier hatte der Erzbischof das Gefühl, in die Vergangenheit zu reisen, das Leben der Bergarbeiter kennen zu lernen, die Dutzende oder gar Hunderte von Jahren vor Cahnyrs Geburt hier unten gearbeitet hatten. Es war sonderbar, aber wahr: Für Cahnyr war der alte Stollen zu einer Kathedrale geworden. Die völlige Stille, die ihn hier umgab, bot ihm ideale Bedingungen, nachzudenken und die Gegenwart Gottes zu spüren . In vielerlei Hinsicht war dieser Ort hier für spirituelle Einkehrtage schlichtweg perfekt. Es war Cahnyrs eigener Rückzugsort, und er hatte ihn mit niemandem geteilt, außer mit seinem Sekretär, mit seinem Kammerdiener und mit Gott. Ausdrücklich aufgefordert, über diesen Ort Stillschweigen zu bewahren, hatte Cahnyr seine Mitarbeiter nie. Doch zweifellos wussten die beiden, wie sehr dem Erzbischof daran gelegen war, diesen Ort für sich zu behalten.
    Allerdings hatte Cahnyr dort unten nicht ausschließlich meditiert. Tatsächlich hatte er so manche Stunde damit verbracht, das Gangsystem zu erkunden und sich die einzelnen Stollen und Schächte genau anzusehen. Das Gestein war zweifellos massiv, und das Holz der Grubenverzimmerung schien kaum verrottet zu sein. Damit bestand nicht die Gefahr, dass die Grube zur Todesfalle würde. Allerdings hatte Cahnyr einen bestimmten Nebenstollen sofort gemieden, nachdem er nur einen kurzen Blick auf die Stützbalken an der Decke geworfen hatte. Daneben gab es durch Wassereinbrüche unpassierbare Bereiche, was natürlich jegliche weitere Erkundung in diese Richtung verhinderte. Trotzdem hatte Cahnyr mehrere Meilen unter der Erdoberfläche zurückgelegt und die Wände dabei stets markiert. Und immer hatte er seinen Bindfaden ausgelegt, um im Notfall jederzeit auf dem kürzesten Weg wieder zurückzufinden.
    Genau am Eingang jenes Stollens, den er vor so vielen Jahren entdeckt hatte, blieb Cahnyr nun stehen und klopfte sich mit den Handschuhen den Schnee von der Winterjacke. Der kurze Weg vom Gipfelhaus bis zum Eingang des Schachts war deutlich anstrengender gewesen, als Cahnyr gedacht hatte. Der Wind war noch heftiger als vermutet. Und die Temperatur sank immer noch. Am Tag nach ihrer Ankunft am Gipfelhaus hatte er zusammen mit Tohmys einen kleinen Bestand unerlässlicher Vorräte in den Schacht gebracht. Es war ganz offenkundig gut gewesen, damit nicht zu warten. Allein schon die Rucksäcke, die sie beide geschleppt hatten, wären bei diesem Wetter heute fast schon zu viel gewesen.
    Nachdem Cahnyr sich nach Kräften abgeklopft hatte, streifte er einen Handschuh ab und zog sein Zunderkästchen hervor. Es war eisig kalt, und seine Hände zitterten so sehr, dass er deutlich länger brauchte als sonst, um die Blendlaterne zu entzünden. Aber nachdem endlich der Docht brannte, entschädigte ihn das Licht für die Anstrengung. Die meisten hätten den Anblick des kalten, nackten Gesteins kaum als angenehm empfunden. Doch Zhasyn Cahnyr war nicht wie die meisten Menschen, und die meisten Menschen auf Safehold wussten auch nicht, dass die Inquisition nur noch ein wenig abwartete, bevor sie mit ganzer Härte zuschlüge.
    »Na ja, so weit, so gut!«, sagte er fröhlich.
    »Ach ja?« Im Schein der Laterne blickte Tohmys ihn skeptisch an. »Und wie weit ist dieses ›so weit‹, Eure Eminenz?«
    »Die Heilige Schrift lehrt uns, selbst die längste Reise beginne mit dem ersten Schritt«, erwiderte Cahnyr gelassen.
    »Das stimmt wohl, Eure Eminenz, und ich werde den Erzengeln gewiss nicht widersprechen. Aber trotzdem will es mir scheinen, als lägen noch jede Menge weitere Schritte vor uns.«
    »Nun, das , Fraidmyn, ist eine Auslegung, die der kirchlichen Lehre voll und ganz entspricht.« Cahnyr hob die Laterne und griff nach der Deichsel des kleinen, zweirädrigen Karrens, auf den sie ihre Vorräte geladen hatten. »Wollen wir?«, fragte er.
    Mehrere Stunden später waren Cahnyr die Beine so schwer geworden wie noch nie.
    Es war wirklich schon einige Zeit her, seit er das letzte Mal so tief in das Gangsystem vorgedrungen war. Er hatte dessen Ausdehnung ganz vergessen gehabt. Oder vielmehr: als er das letzte Mal hier gewesen war, war er noch deutlich jünger gewesen. Deswegen hatte er nicht daran gedacht, wie viel länger der Weg allein durch den Lauf der Jahre wurde. Es würde noch sehr, sehr lange dauern, bis Tohmys und er das andere Ende des Stollens erreichten. Wahrscheinlich hätte sich bis dahin
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