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Hartland

Hartland

Titel: Hartland
Autoren: Wolfgang Buescher
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Vorwissen zerging zu nichts. All die Bilder und Informationen, wo waren sie hin? Wie Funde aus uralten Gräbern zerfielen sie an der Luft, sobald sie ihr ausgesetzt wurden. Balsamierte Momente. Gegenwarten aus dritter Hand. Bloße Schatten wirklicher Bilder.
    Starr stand die Sonne, als hielte jemand die Erdachse an, starr lag das Land unterm Eis. Nur Skelette des letzten Sommers stachen daraus hervor. Autowracks und Erntegerät, wie in Krämpfen verrenkt, die Stacheldrahtgirlanden der Farmzäune, halb versunken im Schnee. Ein Adler kreiste. Güterzüge sah ich im Winterschlaf liegen, ab und zu eine Ölpumpe – ihr heiseres Nicken und Picken dann. Die schwarzen Drähte einer Oberleitung liefen über mir wie Notenlinien, aber es fehltendie Noten, kein Vogel saß auf dem Draht – ein am Winterhimmel hängendes ungeschriebenes Lied. Ich wollte es hören.
    Dieser knisternd gegenwärtige Wintermorgen in Norddakota, die schneidende Kälte, in der ich ging, der leichte Schmerz beim Einatmen, die winterstarre Welt – all das barg die pochende Erwartung von Dingen, die kommen würden, die auf mich warteten an der Biegung der Straße. Immerzu hielt ich Ausschau nach etwas, nach einer Farm, einem Haus, einer Rinderherde, einem Pferd, einem Auto, einem totgefahrenen Hirsch oder Kojoten. Das alles gab es alle paar Meilen, aber es diente nur dazu, die Leere um so vernichtender, um so grandioser zu empfinden, die endlose, baumlose, brettflache Prärie. Wie leer Amerika war!
So
leer war Amerika,
so
amerikanisch die Leere –
so
hatte ich das nicht gewußt. Hätte ich mein reiches, überreiches Vorwissen in einem Beutel bei mir getragen, in diesem Augenblick wäre er in den Schnee geflogen. Nein, ich hatte dieses Land nicht gekannt, zu meinem Glück. Ich sah Amerika zum ersten Mal.
    Hartland
    Über Nacht war das Wetter umgeschlagen, von Saskatchewan her kam eine schwarze Wand gezogen. Sinnlos, ihr entkommen zu wollen, der Schneesturm flog schnell, bald würde er mich einholen. Noch aber ließ er mir einen Vorsprung. Gestern, in der Abenddämmerung, war ich in einen winzigen Ort gekommen, wo ich zu meiner Überraschung eine Unterkunft fand, eine im Winter offene Lodge, seit dem Morgen war ich weitergelaufen, auf die Stadt Minot zu.
    Allmählich veränderte sich das Land. Es wurde karstig, hügelig. Ich zog die Karte zu Rate. Bis Minot würde ich es nicht schaffen an einem Tag. Heute früh in der Lodge hatte man mir gesagt, auf halbem Weg gebe es ein Motel, in einem kleinen Ort namens Berthold, doch Berthold lag abseits der großen Straße nach Minot, eine Nebenstraße führte dorthin. Ihr folgte ich nun schon seit Stunden.
    Erst fand ich es nicht ungewöhnlich, niemandem zu begegnen, aber es blieb dabei. Kein einziges Auto überholte mich oder kam mir entgegen, niemand sonst nahm diesen Weg, der sich in die Hügel schlängelte und später durch unbestelltes Ödland. Irgendwann erreichte ich wieder Farmland, eine flache Hochebene, wenn meine Orientierung mir keinen Streich spielte, aber an ihr begann ich zu zweifeln. Ich hatte das Gefühl für die Himmelsrichtungen verloren. Erst als ich entdeckte,daß die Feldwege, die ich kreuzte, Namen trugen, erhielt mein Weltvertrauen neue Nahrung. Avenue oder Street hießen die numerierten Wege. Sonderbar nur, daß meine Karte sie nicht verzeichnete und auch die Straße nicht, auf der ich ging. Ich steckte die Karte weg, sie nutzte mir nichts mehr.
    Ich sah mich um. Kein Ort, kein Haus, kein Lebenszeichen. Die schwarze Wand von Kanada her schien verschwunden, aufgelöst, aber das war sie nicht. Sie hatte sich über den ganzen Himmel verteilt. Es begann zu schneien. An asphaltierten Straßen wie dieser lagen gelegentlich Farmen, das war mein einziger Trost. Ich hoffte, auf eine zu stoßen, aber selbst wenn, wußte ich nicht, ob es mir helfen würde. Viele Farmen hier draußen waren aufgegeben oder nur noch Sommerhäuser ihrer alten oder neuen Besitzer und den Winter über unbewohnt.
    Ich ging ohne Sorge, ohne Eile. Nichts gleicht dem Frieden, den fallender Schnee übers Gemüt des Wanderers wirft. Peitschender Regen hätte mich aufgebracht und meine Schritte beschleunigt, betäubende Hitze meine Reserven mobilisiert. Wie sanft fiel doch der Schnee, wie leicht wurde mir darin. Im lautlosen Flockengestöber gehen, in einer aufgeschüttelten Schneekugel, ringsum ein Taumeln – alles gleich, oben und unten, nah und fern, nicht mehr auszumachen, wo das Land endete und der Himmel begann. Himmel,
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