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Harold - Einzlkind: Harold

Harold - Einzlkind: Harold

Titel: Harold - Einzlkind: Harold
Autoren: Einzlkind
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Sie formieren sich zu alter Stärke, nur über dem Great Blasket bricht ein Lichtkegel durch, den auch Gott nicht schöner hätte malen können. In schaumigen Wellen rauscht das Meer bis zu den Füßen und zieht sich fauchend wieder zurück. Es riecht nach Fisch, leicht verdorben, als habe man ihn nach dem Auftauen vergessen. Das Kreischen der Möwen ist nicht zu deuten, wahrscheinlich schwatzen sie nur. Für einen flüchtigen Augenblick, kaum länger als ein Wimpernschlag, ist alles vergessen und die schroffe Natur ein putziges Kleinod fürs Gemüt.
    Melvin starrt aufs Meer. Hier also ist sein Dad, aber er kann ihn nicht erkennen. Da ist nur Wasser. Unendlich viel Wasser. Bis weit hinter dem Horizont. Da kann er lange die Asche suchen. Sie ist längst ertrunken, und irgendwie ist alles anders als gedacht. Er hat doch alle Szenarien durchgespielt. Nur dieses nicht, das war ihm immer zu kitschig. Und jetzt ist es schon ein bisschen traurig, nicht viel, nur ein bisschen, so wie im Kino, wenn man weinen soll und es Popcorn gibt. Hatten sie Gemeinsamkeiten? Wie den fragilen Körperbau, das souveräne Auftreten, die geschliffene Rhetorik, der sensible Hang zur Ironie oder das fabelhafte Gedächtnis. War sein Vater auch ein Genie? Eher nicht, dafür braucht es Generationen und genetisches Glück.
    Drei Monate zu spät, um Hallo zu sagen. Drei Monate. Morgen wird seine Ma wieder da sein, und falls das mit der Unterschrift herauskommt, wird er ihr erklären müssen, warum er eine Woche lang nicht zur Schule gegangen ist. Sie legt so großen Wert darauf, obwohl es dort nichts zu lernen gibt. Ganz im Gegenteil. Kostenlos erteilt er Nachhilfe, insbesondere Mr. Windish, seinem Mathelehrer, der in Differenzialgeometrie auf dem Stand eines Dreijährigen ist. Eigentlich sollte er Geld dafür bekommen, dass er zur Schule geht. Soziales Engagement wird viel zu wenig honoriert. Ob er ihr von Dad erzählen soll?
    Harold ist betrübt, dass Melvin seinen Vater nun nie kennenlernen wird. Das ist eine Schande. Und doch nur ein weiteres Puzzlestück. Wäre das Leben ein Wunschkonzert, würde es nicht wie eine Schrottpresse klingen. Aber er ist auch froh, dass die Reise endlich ein Ende hat. Er wird wieder nach Hause können, donnerstags wieder Bridge spielen, auf das Frühstück bei Tiffany warten, sich ab und an im Treppenhaus erhängen und mal wieder Teebaumöl kaufen. Vielleicht wird er einen neuen Beruf finden, ohne tote Tiere, er könnte doch im Gesundheitswesen arbeiten oder irgendwas mit Erdbeeren machen. Jetzt, da die Menschen immer mehr auf ihre Ernährung achten.
    Reisen aber möchte er in Zukunft erstmal nicht, das reicht ja für die nächsten zwei bis drei Jahrzehnte, vielleicht aber auch länger. Abenteuer sind furchtbar anstrengend. Ob Mrs. Cardigan älter geworden ist? Hoffentlich hat sie sich keine Erkältung zugezogen. Sie ist im Herbst immer etwas leichtsinnig mit der Wahl ihrer Garderobe. Die Feuchtigkeit in Irland ist sogar noch heimtückischer, insbesondere hier am Meer.
    »Ach«, zerstört Melvin die zauberhafte Stille, »beinahe hätte ich es vergessen.« Er wühlt in seiner Umhängetasche, er sucht etwas, er hat es gefunden. »Wie Sie ja wissen, bin ich ein Genie, und deshalb weiß ich auch, dass Sie heute Geburtstag haben, und wie jedes Geburtstagskind bekommen auch Sie ein Geschenk.«
    Melvin überreicht Harold ein kleines Päckchen. Die rosa Schleife und das glänzend gelbe Papier mit den bedruckten Teddybären ist nicht sein Vergehen. Das war die kranke Frau auf dem Schiff. Im Souvenirshop. Mit den Andenken für die Unterschicht. Aber zwei brauchbare Dinge hat Melvin finden können, immerhin. Harold ist gerührt. Er öffnet die Schleife und zieht vorsichtig das Tesafilm vom Papier. Einer der Bären verliert seinen Kopf, ein anderer ein Bein.
    Überraschung: Es sind zwei Geschenke. Eine Tüte Karamellbonbons und eine Straßenkarte von Wien. Die hat Harold noch nicht. Er hat eigentlich überhaupt keine Straßenkarte. Was für eine schöne Idee. Nur, warum ausgerechnet Wien? Ein Sonderangebot? Es ist die Geste, die zählt.
    »Habe ich eigentlich schon erwähnt«, sagt Melvin, »dass ich meine Tante Eleonore Gershwin nie persönlich kennengelernt habe. Sie soll mittlerweile in Wien leben. Und nach meinen Recherchen gibt es nur vier Eleonore Gerswhins in ganz Österreich. Ist das nicht wunderbar?«
    Harold stirbt.

Der Autor lebt in England. Oder in Deutschland. Er ist militanter Nichtraucher und schwer
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