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Harold - Einzlkind: Harold

Harold - Einzlkind: Harold

Titel: Harold - Einzlkind: Harold
Autoren: Einzlkind
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seiner Nase auf die Fingerknöchel der großen Männer in den dunklen Anzügen schlug. Die Fotografen waren schier aus dem Häuschen, und am nächsten Tag war nicht der Premierminister auf der Titelseite der Sun zu sehen, es war Lenny Ferguson, wie er in den Absperrgittern lag und das Blut aus seiner Nase tropfte, das linke Auge schon ein wenig angeschwollen, aber für das Foto noch das Lächeln eines Siegers zaubernd. Die Schlagzeile lautete: »Willkommen an der Heimatfront!«
    Seither gibt es im Viertel keine Politikerbesuche mehr, und Harold nimmt diesen Umstand mit einer gewissen Erleichterung wahr, sind ihm doch von klein auf das Laute und die Masse stets suspekt gewesen, und daran hat sich bis zum heutigen Tag nichts geändert, ganz im Gegenteil. Der Mensch an sich ist ihm keine große Belastung, aber schon eine Gruppe von mehr als drei an der Zahl bereitet ihm ein Unbehagen, das er gar nicht näher zu definieren weiß, es ist nur so ein Gefühl, in der Magengegend, zwischen Leber und Milz vielleicht, und tränke er Alkohol, wäre er vor jeder Busfahrt und vor jedem Einkauf sturzbetrunken, aber er trinkt keinen Alkohol mehr, seit man ihn bei einer Betriebsfeier vor zwölf Jahren dazu nötigte und er infolgedessen auf dem Heimweg gegen jeden auffindbaren Laternenmast stieß, zweimal über einen Hydranten fiel und, als er dann endlich mit dreistündiger Verspätung zuhause ankam, sich so oft übergab, dass es ihm wie ein Wunder vorkam, überhaupt noch am Leben zu sein.
    Dies mag vielleicht auch der Grund dafür sein, warum Harold im Großen und Ganzen nicht in der Stimmung für eine Partie Bridge ist, was aber wenig von Bedeutung ist, da Harold nie in der Stimmung für eine Partie Bridge ist. Harold wurde einberufen, als Walter Mayhew der Gesellschaft vor einem Jahr davonstarb und aus dem Bekanntenkreis der illustren Runde mit Mrs. Davenpot, Mrs. Merrythought und Mrs. Cardigan kein adäquater Ersatz rekrutiert werden konnte. Harold wird in guten Momenten als endgültige Zwischenlösung toleriert, in schlechten als Prüfung Gottes angesehen. Dabei ist Bridge ein Spiel, von dem Harold weiß, dass es mit Karten zu tun hat, derweil ihm Strategie, Farben und Zählweise stets ein ähnliches Mysterium sind wie das Alte Testament, in dem er in jungen Jahren einmal pflichtlektürend blätterte und aus dem einzig Ezechiel in mahnender Erinnerung sein Bewusstsein trübt, insbesondere sonntags.
    Das Spiegelbild im Bad mahnt zur Erfrischung, die Haare müssen neu gescheitelt und ein frisches Hemd übergezogen werden. Weiß oder blau? Harold besitzt vier weiße und vier blaue Hemden, die er seit über zwanzig Jahren bei Herb’s Herrenbekleidung kauft, einem kleinen Laden in der Warwick Street, in dem Harold noch nie einem anderen Kunden begegnet ist. Das grüne Hemd, das er einst von Mrs. Cardigan zum Geburtstag geschenkt bekam, trägt er nur auf Beerdigungen, warum, weiß er auch nicht, es hat sich so ergeben. Mode ist für Harold nur ein Wort aus den Zeitungen, deren Visualisierungen ihn weniger inspirieren, als vielmehr zutiefst verwirren und ihn jedes Mal ratlos zurücklassen, wenn sein brauner Cordanzug alle fünf Jahre für schick erklärt wird und die Bevölkerung ihn einige Monate für einen aufgeschlossenen Intellektuellen hält.
    In zehn Minuten ist Spielbeginn, diesmal bei Mrs. Merrythought, zwei Häuserblöcke weiter, Parterre links und unschwer zu verfehlen, da in dem Küchenfenster zur Straße hin ein Engel leuchtet, Tag und Nacht, selbst wenn die Sicherungen rausfliegen, denn der Engel ist mit zwölf Volt batteriebetrieben.
    6
    Als Mrs. Merrythought die Tür öffnet, begrüßt sie Harold mit einem »Herrje«. Sie macht auf dem Absatz kehrt und geht wieder in den Raum, aus dem sie gekommen ist. Der zweite Fußabtreter im Haus ist eigentlich noch wichtiger als der erste vor dem Haus. Harold weiß das und putzt sich seine Schuhe am »Willkommen« sauber. Er hängt seinen Mantel auf den Kleiderbügel, der, aus Echtholz und mit Lack behandelt, weit mehr einem Relikt als einem Gebrauchsgegenstand ähnelt. Jetzt muss Harold nur noch die Füße bewegen, er muss gehen, vorwärts, und sei es auch in eine ungewisse Zukunft, die am Ende auf ihn wartet und in der alles passieren kann, wie zum Beispiel, dass eine Linienmaschine ins Haus stürzt, weil ein Pelikan sich verrechnet hat und es nie wieder Tag wird.
    Der lang gezogene Flur ist mit gerahmten Fotos der letzten fünfzig Jahre überzogen, die alle Mrs. Merrythought
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