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Hana

Hana

Titel: Hana
Autoren: Lauren Oliver
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wieder?«, wiederholt er. Ich bin froh, dass ausnahmsweise nicht ich diejenige bin, die stottert oder nach Worten ringt.
    Die Wörter fliegen mir nur so aus dem Mund: »Ist doch schon ein bisschen seltsam, dass ich dich mein ganzes Leben lang noch nie gesehen habe und dich dann plötzlich überall treffe.« Ich hatte gar nicht vor, das zu sagen – eigentlich war mir das überhaupt nicht seltsam vorgekommen –, aber in dem Moment, in dem ich es ausspreche, wird mir bewusst, dass es wahr ist.
    Ich rechne damit, dass er sauer wird, aber erstaunlicherweise legt er den Kopf zurück und lacht ausgiebig und laut, während das Mondlicht die Wölbung seiner Wangen, sein Kinn und seine Nase versilbert. Ich bin so überrascht von seiner Reaktion, dass ich einfach dastehe und ihn anstarre. Schließlich sieht er mich an. Obwohl ich seine Augen immer noch nicht erkennen kann – denn alles, was der Mond nicht in helles, kristallklares Silber taucht, ist in tiefster Schwärze verborgen –, erscheinen sie mir hell und klar, wie an dem Tag bei den Labors.
    »Vielleicht warst du einfach nicht aufmerksam genug«, sagt er leise und wippt leicht auf seinen Füßen nach vorn.
    Ich trete unbewusst einen halb schlurfenden Schritt zurück. Seine Nähe macht mir Angst; das Gefühl, wir würden uns berühren, obwohl unsere Körper ein ganzes Stück voneinander entfernt sind.
    »Was … was soll das heißen?«
    »Das soll heißen, dass du dich irrst.« Er schweigt und sieht mich an und ich gebe mir Mühe, meine Mimik zu kontrollieren, obwohl ich spüren kann, wie mein linkes Auge sich anspannt und zuckt. Hoffentlich fällt ihm das in der Dunkelheit nicht auf. »Wir haben uns schon oft gesehen.«
    »Ich würde mich daran erinnern, wenn wir uns schon mal getroffen hätten.«
    »Ich habe nicht gesagt, wir hätten uns getroffen .« Er versucht nicht, den Abstand zwischen uns zu überwinden, und zumindest dafür bin ich dankbar. Er kaut seitlich auf seiner Lippe – das lässt ihn jünger wirken. »Darf ich dich was fragen?«, fährt er fort. »Wie kommt es, dass du nicht mehr am Gouverneur vorbeiläufst?«
    Unwillkürlich schnappe ich nach Luft. »Woher weißt du das mit dem Gouverneur?«
    »Ich studiere an der UP«, sagt er. University of Portland – jetzt fällt es mir wieder ein, der Nachmittag, an dem wir den Hügel hinaufgegangen sind, um vom hinteren Teil des Laborkomplexes aus aufs Meer zu sehen, wie mir der Wind Bruchstücke seines Gesprächs mit Hana zutrug. Damals hatte er wirklich gesagt, er sei Student. »Ich habe letztes Semester in der Kaffeerösterei am Monument Square gearbeitet. Ich habe dich andauernd gesehen.«
    Mein Mund klappt auf und zu. Kein Wort kommt heraus; immer wenn ich es am nötigsten brauche, hat mein Gehirn Pause. Natürlich kenne ich die Kaffeerösterei; Hana und ich sind zwei- bis dreimal pro Woche daran vorbeigelaufen und haben die Studenten wie dahintreibende Schneeflocken hinein- und herausströmen und den Dampf von ihren Bechern pusten sehen. Die Kaffeerösterei liegt an einem kleinen, kopfsteingepflasterten Platz namens Monument Square. Er markiert die Hälfte einer der Zehnkilometerrunden, die ich früher oft gelaufen bin.
    Mitten auf dem Platz steht die Statue eines Mannes, schon ganz verwittert von Schnee und Wind und mit ein paar geschwungenen Graffitikringeln bekritzelt. Er beugt sich vor, eine Hand hält den Hut auf seinem Kopf fest, so dass es aussieht, als kämpfte er gegen einen heftigen Sturm oder kräftigen Gegenwind an. Seine andere Faust ist nach vorn gestreckt. Es ist offensichtlich, dass er vor langer Zeit irgendetwas hielt – wahrscheinlich eine Fackel –, aber irgendwann brach dieses Teil ab oder wurde gestohlen. Jetzt schreitet der Gouverneur also mit leerer Faust vorwärts, ein kreisrundes Loch in der Hand, das ein perfektes Versteck für Nachrichten und Geheimbotschaften darstellt. Hana und ich haben manchmal in seiner Faust nachgesehen, ob etwas Gutes drinsteckte. Aber da war nie was – abgesehen von ein paar zusammengeklebten Kaugummis und einigen Münzen.
    Wann oder warum Hana und ich anfingen, ihn Gouverneur zu nennen, weiß ich eigentlich gar nicht mehr. Durch Wind und Regen ist die Plakette am Fuß der Statue unlesbar geworden. Sonst nennt ihn niemand so. Alle anderen sagen bloß: »Die Statue am Monument Square.« Alex muss eins unserer Gespräche über den Gouverneur mit angehört haben.
    Alex sieht mich immer noch abwartend an und mir wird klar, dass ich seine
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