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Halskette und Kalebasse

Halskette und Kalebasse

Titel: Halskette und Kalebasse
Autoren: Robert van Gulik
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zu überqueren.«
    Der alte Mann drehte die Blüte in seiner dünnen Hand.
    »Verstehen Sie mich nicht falsch, Di. Ja, ich wollte Macht. Die nahezu unbegrenzte Macht desjenigen, der das schuldbeladene Geheimnis eines Kaisers kennt. Aber ich hatte noch ein ganz anderes, viel stärkeres Motiv. Ich wollte die Dritte Prinzessin für immer bei mir haben, Di. Wollte mich liebevoll um sie kümmern, so wie ich mich um diese seltene Blume gekümmert habe. Ich wollte sie auch in Zukunft jeden Tag sehen, ihre liebliche Stimme hören, alles wissen, was sie tut... immer. Und nun wird sie mir von einem primitiven Soldaten geraubt ...«
    Plötzlich zerquetschte er die Orchidee in seiner klauenartigen Hand und warf sie auf den Boden. »Lassen Sie uns hineingehen«, sagte er schroff. »Ich leide an vielen chronischen Krankheiten, und es ist Zeit, meine Tropfen zu nehmen.«
    Richter Di folgte ihm in die Bibliothek.
    Der alte Mann setzte sich in den riesigen geschnitzten Lehnstuhl und schloß eine Schublade auf. Er entnahm ihr eine Miniaturkalebasse aus Bergkristall, deren Pfropfen mit einem roten Seidenband gesichert war. Als er sie gerade entkorken wollte, trat der Richter nach vorn und umschloß das gebrechliche Handgelenk mit seiner großen Hand. Er sagte kurz:
    »Das bösartige Komplott muß mit Stumpf und Stiel vernichtet werden.«
    Der Obereunuch ließ das Kristallfläschchen fahren. Er drückte auf einen Knopf in dem Blumenmotiv, das kunstvoll in den Rand des Schreibtisches geschnitzt war. Eine flache Schublade sprang heraus, und er entnahm ihr einen versiegelten Umschlag, den er, die dünnen blauen Lippen zu einem höhnischen Lächeln verzerrt, dem Richter übergab.
    »Lassen Sie sie zu Tode foltern, jeden einzelnen von ihnen!
    Ihre erbärmlichen Seelen sollen mir im Jenseits als Sklaven dienen!«
    Der Richter brach das Siegel und warf einen flüchtigen Blick auf die dünnen Papierstreifen. Jeder war mit einem Namen und einer Rangbezeichnung versehen; außerdem enthielten sie Datumsangaben und Geldbeträge, alles in derselben Spinnenhandschrift geschrieben. Er nickte und steckte den Umschlag in seinen Ärmel.
    Der alte Mann zog den Pfropfen aus der kleinen Kristallkalebasse und goß ihren farblosen Inhalt in eine Teetasse. Nachdem er sie in einem Zug geleert hatte, lehnte er sich in den Stuhl zurück und umklammerte mit seinen dick geäderten Händen die Armstützen. Seine halb verdeckten Augen schlössen sich, sein Atem ging in Stößen. Dann ließ er die Armlehnen los und griff sich an die Brust. Ein heftiges Zittern schüttelte seinen schwachen Körper. Plötzlich bewegten sich die blauen Lippen.
    »Sie haben meine Erlaubnis, die Goldene Brücke zu überqueren.« Der Kopf sank ihm auf die Brust; die Hände fielen kraftlos in seinen Schoß.

Einundzwanzigstes Kapitel
     
     
    Der Oberaufseher und Oberst Kang warteten in beklommenem Schweigen im Gang. Der fettleibige Eunuch lag immer noch auf den Knien. Richter Di schloß die goldlackierte Tür. Er reichte dem Oberaufseher den Umschlag und sagte:
    »Hier drin finden Sie die genauen Einzelheiten über alle, die an der ruchlosen Verschwörung beteiligt waren. Gehen Sie in Ihr Büro zurück und lassen Sie die Hauptverantwortlichen sofort verhaften. Anschließend führen Sie eine minutiöse Untersuchung durch. Sie können mir folgen, Oberst. Ich habe die Erlaubnis, die « Brücke zu passieren.« Und zum Eunuchen sagte er: »Gehen Sie • voraus«
    Als die drei Männer am Fuße der Brücke angelangt waren, schlug der fette Eunuch den kleinen goldenen Gong, der an einer Marmorsäule aufgehängt war. Nach einer Weile kamen vier Hofdamen aus dem Gebäude auf der anderen Seite, und der Richter und Oberst Kang gingen hinüber. Richter Di teilte den Damen mit, daß der Untersuchungsbeamte um die Ehre einer Audienz nachsuche. Sie wurden in einen Nebenraum geführt, wo sie lange Zeit warteten. Die Prinzessin war offensichtlich noch bei ihrer Toilette.
    Endlich erschienen zwei Hofdamen und führten den Richter und den Oberst über einen offenen Gang zu einem überdachten Balkon, der auf der Ostseite des Palastes gelegen und von schweren, rotlackierten Säulen gesäumt war. Von dort hatte man einen herrlichen Blick über die Wälder, die sich zu den Bergen hinaufzogen. Die Prinzessin stand an der entferntesten Säule, einen runden Fächer in der Hand. Hinter ihr sah man eine zarte ältere Dame, deren graues Haar von der hohen Stirn glatt zurückgekämmt war. Der Richter und der Oberst
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