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Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen

Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen

Titel: Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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sagt Swensen, indem er bewusst ihren Unterton ignoriert. »Du hast Ruppert Wraage schließlich live erlebt. Wie würdest du ihn persönlich einschätzen? Was für ein Typ Mensch ist der?«
    Anna löscht das Licht im Flur, zieht Swensen hinter sich her ins Wohnzimmer und drückt ihn aufs Sofa. Er streckt sich bereitwillig lang aus. Dann stellt sie demonstrativ einen Stuhl an das Kopfende und nimmt mit aufmerksamer Pose darauf Platz.
    »Möchten Sie über Ihr Problem sprechen, Herr Swensen?«
    »Meine Therapeutin liebt mich nicht mehr!«
    Die brennenden Kerzen am Baum tauchen den Raum in ein warmes Licht. Schatten tanzen über die Wände.
    »Was kann die Therapeutin in diesem schwerwiegenden Fall denn machen?«
    »Mir sagen, was für ein Mensch Ruppert Wraage ist!«
    »Mensch Jan«, antwortet Anna, indem ihr Tonfall sich wieder ernst anhört, »ich hab Ruppert Wraage nur zweimal gesehen. Einmal bei dem Vortrag in der Storm-Gesellschaft und dann beim Empfang der ›Husumer Rundschau‹.«
    »Ja und? Welchen Eindruck hattest du von ihm?«
    »Also, in gewisser Weise hat der Wraage etwas von dir!«
    »Was! Das meinst du jetzt nicht im Ernst?«
    »Doch, ich finde du hast schon so einen kleinen narzisstischen Hang. Bei Wraage ist dieser Narzissmus allerdings etwas ausgeprägter. Sein Bestreben, von anderen Bestätigung zu erhalten, ist besonders auffällig …«
    »… und du findest also, dass ich nach Bestätigung strebe?«
    »Wenn du eine ehrliche Anwort willst, ja! Aber ich gebe zu, der Vergleich hinkt ein wenig. Von einem Ruppert Wraage bist du noch meilenweit entfernt. Also, wenn ich an den Vortrag in der Storm-Gesellschaft denke, da war seine aufgeblähte Egozentrik wirklich nicht zu übersehen. Sein Narzissmus hat höchstwahrscheinlich pathologische Züge, besonders wenn er wirklich gemordet hat.«
    »Und was können wir machen? Wie gelingt es, einen stummen Fisch zum Sprechen zu bringen?«
    »Eine narzisstische Persönlichkeit entwickelt so eine Art ausbeuterischen Charakter. Zu einer zwischenmenschlichen Beziehung ist so ein Mensch kaum in der Lage. Ihm fehlen zum Beispiel echte Gefühle wie Trauer oder Bedauern. Er versucht seinen Sinn nur durch Bestätigung von außen zu bekommen. Wenn er diese aber nicht erhält, wird er schnell ratlos. Und da könnte eine Chance liegen.«
    »Wie meinst du das?«
    »Erinnerst du dich an meinen Vortrag über den ›kleinen Häwelmann und die narzisstische Persönlichkeit‹.«
    »Vage, muss ich gestehen.«
    »Nun, da gibt es eine Passage, wo der kleine Häwelmann nach Bestätigung sucht, indem er den Mond manipuliert. Er muss alles tun, was Häwelmann möchte. Doch als er ihm über das Gesicht fährt, ist die Bestätigung vorbei. Der Mond verschwindet, lässt ihn im Dunkeln zurück. Häwelmann irrt ratlos über den Himmel. Dann kommt die Sonne. Häwelmann will mit ihr das gleiche Spiel fortsetzen. Doch sie wirft ihn kurzerhand von oben hinab ins Meer.«
    »Ich verstehe nicht ganz.«
    »Eine narzisstische Persönlichkeit hat in ihrer Kindheit mit einer dominierenden Mutter zu tun, die an ihr Kind übertriebene Erwartungen stellt. Werden die nicht erfüllt, drohen dem Kind Liebesentzug oder Wutausbrüche. Das Kind erlebt sich als wertlos und gedemütigt, ein Gefühl, dass es unter allen Umständen von sich fernhalten möchte. Bei dem Versuch nicht zu fühlen, entwickelt es ein falsches Selbst, flüchtet sich in Vollkommenheit, Grandiosität oder Größenwahn. Genau da müsst ihr Wraage packen. Ihr schmeichelt ihm, bestätigt ihn in seiner Hybris, sagt wie toll er ist, gebt ihm erst einmal das Gefühl, dass er alles im Griff hat und sich wirklich sicher fühlen kann. Dann braucht ihr das Blatt nur schlagartig zu wenden. Ihr müsst ihn spüren lassen, dass ihr über ihm steht, dass er nur ein kleines Licht ist. Könnte sein, dass dann sein altes Kindheitsgefühl von Wertlosigkeit wieder zum Vorschein kommt. Ihr würdet ihn sozusagen wie den kleinen Häwelmann aus dem Himmel stürzen.«
    Swensen hat sich aufgesetzt, er guckt Anna mit großen Augen an. Dann springt er unvermittelt auf und rennt aus dem Zimmer. Anna hört die Haustür klappen. Kurz darauf wieder. Dann steht Swensen vor ihr.
    »Frohe Weihnachten! Ein kleines Präsent für meine psychologische Profilerin«, sagt er und reicht ihr feierlich ein Päckchen in braunem Packpapier.
    Er hatte es vorgestern noch im Bücherantiquariat in Husum gekauft, ein limitierter Kunstband von ›Pole Poppenspäler‹ mit Original
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