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Häschen in der Grube: Roman (German Edition)

Häschen in der Grube: Roman (German Edition)

Titel: Häschen in der Grube: Roman (German Edition)
Autoren: Maria Sveland
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sagte immer wieder, sie machten sie verrückt. Vielleicht machte ihr ständiges Schreien nun sie, Gisela, verrückt? Wie aus einer Eingebung heraus zog sie einen Küchenstuhl an den Herd. Sie zögerte. Lauschte nach Schritten im Flur, aber es war niemand in der Wohnung. Gisela kletterte auf den Stuhl und schaute auf den wunderbaren Speck in der Pfanne. Es kniff im Bauch von dem köstlichen Geruch, und jetzt dachte sie überhaupt nicht mehr nach, sondern nahm eine Scheibe und steckte sie in den Mund. Es schmeckte wundervoll, sie kaute genüsslich und lange. Plötzlich spürte sie einen festen Griff im Nacken und am Arm. Ihre Mutter stand am Herd, das Gesicht hochrot vor Zorn. Nach zwei tüchtigen Ohrfeigen hörte Gisela das Schreien ihrer Mutter wie von weit weg.
    »Was machst du, du gieriges Balg!? Bist du verrückt geworden? Weißt du, was mit kleinen Mädchen passiert, die zu viel essen? Ich werde es dir sagen, sie schwellen an und werden dick. Verstehst du? Fett!«
    Die Worte strömten nur so aus ihr hervor, und dabei schüttelte sie die ganze Zeit Giselas fünfjährigen kleinen Körper.
    Dann nahm sie Giselas Hand und führte sie zum Kartoffeltopf.
    »Ich werde dich lehren, nie mehr unerlaubt vom Essen zu naschen.«
    Bevor Gisela wusste, was geschah, spürte sie den brennenden Schmerz, als ihr Zeigefinger in das kochende Wasser getaucht wurde. Sie schrie und zappelte am ganzen Körper, sodass der Stuhl umfiel, sie zu Boden stürzte und ihre Mutter sie ansah.
    »Gierige Mädchen sind das Hässlichste, was es gibt. Merk dir das, Gisela!«
    Dann die klappernden Schritte, als sie die Küche verließ.
    Lange hatte sie geglaubt, alles sei nur ein schrecklicher Traum gewesen. Die Erinnerung war zu einer harten Kugel verklumpt, die sie nicht zu fassen bekam und die davonrollte, sobald sie sich näherte. Bis sie auf dem Speicher von Tante Stina die Krankenberichte in einer roten Hutschachtel entdeckte. Das war 1976, kurz nach Tante Stinas plötzlichem Tod an einer Gehirnblutung. Kaj war drei Jahre zuvor gestorben, in der letzten Zeit war Stina immer verwirrter gewesen, vielleicht hatte sie unbemerkt schon kleinere Schlaganfälle gehabt. Gisela war hochschwanger mit Julia und hatte nur mit großer Mühe all die Sachen, die Stina im Lauf der Jahre angesammelt hatte, aufräumen und entsorgen können. Oben auf dem Speicher, auf einem blauen Holzstuhl, blätterte sie in den Berichten, in denen es um Erika ging. Sie bestätigten, dass Erika im Zusammenhang mit Giselas Geburt sehr krank geworden war. Aber da gab es auch einen Bericht, der von ihr handelte.
    In verschnörkelter Handschrift und mit blauer Tinte stand da über die Patientin Gisela Johansson, geb. 1953, die am 26. Januar 1957 mit Brandverletzungen am Zeigefinger in die Ambulanz gebracht wurde: Patientin ruhig. Mutter jedoch hysterisch. Behauptet, sie selbst habe den Finger der Tochter in einen Topf mit kochendem Wasser getaucht, um dem Mädchen die Gier auszutreiben. Hat Beruhigungsmittel und Ruhe verordnet bekommen.
    Sonst nichts. In diesen kurzen Sätzen stand alles und nichts.
    Zwei Monate, nachdem eine hysterische Erika mit einer brandverletzten Gisela die Ambulanz aufgesucht hatte, nahm sie sich das Leben. Am helllichten Tag, während die Möwen vor dem Küchenfester der kleinen Zweizimmerwohnung schrien. Sie hatte sämtliche Schlaftabletten genommen und sich aufs Küchensofa gelegt, während Gisela bei Frau Lindström zwei Stockwerke tiefer spielte. Schon am nächsten Tag wurde Gisela zu Tante Stina und Onkel Kaj gebracht. Papa Gregers Beruf brachte es mit sich, dass er die meiste Zeit auf Reisen war, und das war nicht vereinbar mit dem Aufziehen eines Kindes.
    Wann entstand das Bedürfnis, sich möglichst lautlos zwischen den Zimmern zu bewegen? Sie war sich nicht sicher, sie konnte sich nur erinnern, dass es schon immer da gewesen war, es gehörte einfach zu ihr. Nur nicht stören, unsichtbar sein. Erst wegen Mama Erika, die man auf keinen Fall wecken durfte, wenn sie versuchte, tagsüber etwas vom verlorenen Nachtschlaf nachzuholen, dann Tante Stina und Onkel Kaj. Das Gefühl, im Weg zu sein, verschwand nie richtig.
    Das stille Spiel mit Puppen, sie flüsterte immer nur, um nicht zu stören. Auch in der Schule war sie das stille Mädchen, als Erwachsene war sie dann eine folgsame und untertänige Ehefrau, die lieber die eigenen Gefühle unterdrückte, als Ärger zu machen.
    Als Kind hatte Julia große Ähnlichkeit mit Gisela gehabt, sie war still und
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