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Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein

Titel: Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
Autoren: Andreas Winkelmann
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solche und solche Tage, aber mein Therapeut sagt, ich mache große Fortschritte. Es hilft mir auch, mit ihm darüber sprechen zu können, und tagsüber, mit der ganzen Arbeit hier, na ja, du kennst das ja, tagsüber ist es kein Problem.«
    Aber nachts! , schob sie in Gedanken hinterher.
    Die Nächte waren immer noch schlimm. Dabei lag es gar nicht mal so sehr an dem fremden Haus mit den fremden Geräuschen und den Erinnerungen, sondern an ihren Träumen. Träume, in denen Ellie Brock so gut wie gar nicht vorkam, Sebastian dafür aber umso mehr. Und das war bei Weitem schlimmer, denn ihre Sehnsucht nach ihm fraß sie in solchen Nächten innerlich auf und brach ihr jedes Mal von Neuem das Herz. Mit Ellie Brock wäre sie fertig geworden, denn die war tot und keine Gefahr mehr. Sebastian aber war tot und doch auch wieder nicht. Sie hatte ihn sterbend in den Armen gehalten, hatte ihn beerdigt, war an seinem Grab zusammengebrochen, und doch wollte es nicht in letzter Konsequenz in ihren Kopf, dass er nicht mehr da war. Zurzeit war Sebastian viel gefährlicher für sie, als es Ellie Brock hätte sein können. Sie konnte sich einfach nicht mit diesem Verlust abfinden. Diese Diskrepanz zwischen Verstehen und Ablehnen würde sie auf Dauer den Verstand kosten, das spürte Saskia. Ihr Therapeut konnte ihr helfen, aber nur bedingt. Vielleicht würde ja das, was in ihr heranwuchs, alles verändern. Zum Besseren verändern. Vielleicht lag es auch gerade daran, dass sie einen Teil von Sebastian in sich trug, was es so verdammt schwierig machte, den Verlust zu begreifen.
    Uwe nahm seine rechte Hand vom Schaltknauf, schob
sie rüber und tätschelte Saskias Hand. Er hätte fragen können, wie es mit den Nächten war, unterließ es aber. Saskia war ihm dankbar dafür, denn darüber wollte sie nicht mit ihm reden. Noch nicht. Vielleicht später einmal.
    Viel sprachen sie nicht auf dem Weg in die Stadt. Die Strecke war in den vergangenen Wochen zur Routine geworden, und Saskia hoffte, sie nach dem heutigen Tag erst einmal nicht mehr fahren zu müssen. Am besten nie mehr! Denn sobald sie das Krankenhaus betrat, musste sie daran denken, wie alles begonnen hatte. Der Unfall mit Sebastian. Stefanie, die sie damals abgeholt hatte. Saskia konnte sich sogar noch an den erhobenen Mittelfinger erinnern, der dem hupenden Autofahrer im Parkhaus hinter ihnen gegolten hatte.
    All diese Erinnerungen mussten sich nicht einmal die Mühe machen, alte Wunden aufzureißen, denn die Wunden waren nicht alt. Sie waren frisch und unverheilt.
     
    Im Krankenhaus trennten sie sich. Saskia fuhr mit dem Fahrstuhl in den vierten Stock hinauf, während Uwe und Derwitz in die Cafeteria gingen, um dort auf Saskia und Anna zu warten.
    »Was macht die Gesundheit?«, fragte Derwitz, nachdem sie sich gesetzt und die Bestellung aufgegeben hatten.
    Uwe seufzte. »Mal so, mal so. Morgens, nach dem Aufstehen oder wenn ich längere Zeit gesessen habe, ist das Bein noch immer steif. Aber es wird schon besser. Mein Arzt macht sich keine Sorgen, also mache ich mir auch keine. In zwei oder drei Monaten bin ich wieder im Dienst.«
    Die Kellnerin brachte den Kaffee. Nachdem sie wieder gegangen war, sagte Uwe: »Über sie mache ich mir viel mehr Sorgen.«

    Derwitz rührte eine Portion Zucker in seine Tasse. »Das Mädchen?«
    »Ja. Sie kommt einfach nicht darüber hinweg.«
    Uwe hatte das Bild von vorhin vor Augen, als er auf dem Schneiderhof eingetroffen war. Saskia hatte über die Maßen verloren und entwurzelt gewirkt auf dem Hof vor dem großen Haus. Es hatte ihm den Magen zusammengezogen, sie dort stehen zu sehen; eingeschüchtert, verängstigt und immer noch trauernd. Dass sie überhaupt noch bei Verstand war, rang ihm jedes Mal, wenn er sie sah, Anerkennung und Respekt ab. Aber wie es tief drin in ihr aussah, wie nahe sie am Abgrund stand, konnte er nur ahnen.
    »So etwas braucht Zeit«, sagte Derwitz. »Irgendwann wird sie es schon schaffen. Das Mädchen ist stark.«
    Uwe nickte.
    »Ja, das ist sie. Und vielleicht geht es ihr ja besser, wenn sie nicht mehr allein da draußen ist.«
    Derwitz trank von seinem Kaffee, dann stellte er die Tasse ab. »Das hat mich am meisten erstaunt! Dass sie auf den Hof gezogen ist … nach allem, was dort geschehen ist.«
    Uwe sah Derwitz an und überlegte, ob er es ihm erklären sollte. Warum war Saskia auf dem Hof geblieben? Außenstehende konnten das nicht verstehen; im Ort verstand es kaum jemand. Aber seine Frau und er hatten Saskia
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