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Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein

Titel: Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
Autoren: Andreas Winkelmann
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veränderten weiblichen Formen würde er leben können; mein Gott, er würde jedes zusätzliche Pfund lieben, solange darin nur seine schüchterne, scheue Ellie lebte. Und bis dahin … nun, ihre Schwester kam an zwei Tagen in der Woche, sah nach dem Rechten, half bei der Hausarbeit, versuchte, Ellie aufzumuntern. Peter war ihr dankbar dafür. Er war nicht sonderlich gut in solchen
Dingen. Lieber brachte er von Zeit zu Zeit Geschenke mit.
    Für Schmuck, Parfum oder ein besonderes Kleidungsstück hatte Ellie nichts übrig, aber sie freute sich über jede Kleinigkeit, die mit dem ungeborenen Kind zu tun hatte. In dem Karton auf dem Beifahrersitz – seine Hand ruhte immer noch darauf – befand sich eine Spieluhr aus Blech, die zur Melodie von Hänschen klein einen bunten Blechjungen mit Rucksack und Wanderstab in die Welt hinausziehen ließ. Er hatte sie heute früh in einem Antiquitätenladen entdeckt, dessen Besitzer er von den Vorzügen seiner hochwertig ausgestatteten Lexikonreihe überzeugen wollte. Stattdessen hatte der Rentner mit dem asthmatischen Husten ihm ein nach allen Regeln der Verkaufskunst geführtes Gespräch aufgezwungen, als er die Figur nur kurz in die Hand genommen hatte, um die Wartezeit zu überbrücken, bis die einzige Kundin den Laden verlassen hatte. Schließlich war es nicht mehr um Lexika gegangen und auch nicht um die Frage, ob er den Spieljungen kaufen würde oder nicht, sondern nur noch um den Preis. Der Alte war ein Fuchs, Peter bei Weitem überlegen. Er konnte sich eigentlich nur zugutehalten, den Preis um die Hälfte gedrückt zu haben. Immerhin! Außerdem hätte der Alte sich nicht so anstrengen müssen, er hätte sowieso gekauft. Es war zwar ein kitschiges Spielzeug, aber Ellie würde es gefallen, und er stellte sich vor, wie sie seinem Sohn jeden Abend vor dem Einschlafen dieses Lied vorspielte.
    Mit diesem Bild vor Augen ließ er den Wagen vor seinem Grundstück ausrollen. Als er ausstieg, schlug ihm kalte Luft entgegen, sein Atem erschien als dunstiger Nebel vor seinem Gesicht. Über dem Haus stand der Vollmond. Peter Brock blieb stehen und legte den Kopf in den Nacken. Ein
paar Atemzüge lang genoss er den Anblick der wie poliert glitzernden Sterne, die Kälte auf seinen Wangen und die beruhigende Stille der Siedlung. Die anderen Häuser waren durch die fünfzehn nebeneinander aufgereihten Fertiggaragen von seinem Grundstück getrennt. Es lag am Ende der Straße, dahinter begannen offene Felder und bewaldete Hügel. Als Peter es gekauft hatte, war es das beste und ruhigste Haus in der Siedlung gewesen, nun war es das einsamste. Es bestand ein himmelweiter Unterschied zwischen Einsamkeit und Ruhe, das lernte er gerade auf grausame Art. Die Lichter, die da und dort in den Häusern noch brannten, schienen nach dem Vorfall unerreichbar weit entfernt, so als gehörten sie nicht mehr zu ihrer Welt. Sie würden hier wegziehen müssen. Die Leute würden niemals vergessen. Für ihr Kind, das noch nicht geboren war und keine Schuld trug, würden sie diese gerade erst erschaffene Heimat verlassen müssen. Peter seufzte, ging zur Haustür, schloss auf und trat ein.
    Wie immer hatte Ellie das schwache Licht im Flur für ihn brennen lassen, und wie immer würde er sie zu dieser Zeit schlafend vor dem Fernsehgerät finden, die leere Verpackung einer Tafel Schokolade auf dem Tisch, vielleicht ein bräunlicher Rest in ihrem Mundwinkel. Peter zog die Schuhe aus. Mit der Spieluhr in der Hand ging er in die Küche. Dort floss das schummrige Licht der Dunstabzugshaube über Herd und Arbeitsplatte. Auch das wie immer. Trotzdem verharrte er. Etwas stimmte nicht! Die gedämpften Geräusche des Fernsehers, die ihn sonst um diese Zeit erwarteten, fehlten. Es war still im Haus, ungewohnt still.
    Auf Socken schlich er zum Wohnzimmer. Jedes Knacken seiner Fußgelenke erschien ihm erschreckend laut. Die Tür
zum Wohnzimmer stand offen, nur die kleine Lampe auf dem Fensterbrett brannte. Ellie war nicht da. Ihre Wolldecke lag unangetastet auf der Couch, die Heizung lief nicht, der Raum war kalt. Peter konnte sich an keinen Abend erinnern, an dem er das Wohnzimmer in diesem leblosen Zustand vorgefunden hatte. Es war der einzige Raum des Hauses, in dem sie sich zu dieser Zeit aufhielten.
    Wo steckte Ellie?
    War sie schon zu Bett gegangen? Das wäre ungewöhnlich, sie ging niemals ohne ihn zu Bett. Aber ungewöhnliche Verhaltensweisen waren neuerdings ja ihre Spezialität. Und wo sollte sie sonst sein?
    Peter
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