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Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein

Titel: Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
Autoren: Andreas Winkelmann
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spürte Saskia die Schädeldecke brechen.
    Aber Ellie Brock fiel noch nicht. Sie starrte Saskia an. Ihre Augen wirkten jetzt wie eingefroren, nicht die kleinste Bewegung der Pupillen darin, und doch war sich Saskia sicher, dass sie tiefer blickten als jemals zuvor. Direkt in ihre Seele hinein. Auf keinen Fall wollte Saskia Ellie Brock dort haben. Sie wollte nicht für den Rest ihres Lebens den vorwurfsvollen Blick dieser Frau in ihrer Seele mit sich herumtragen müssen. Diese ungesagten letzten Worte: Warum hast du mir meinen Sohn genommen?
    Saskia holte noch einmal aus. Ein gezielter, kräftiger Schlag, nicht unkontrolliert aus dem Laufen heraus wie der erste. Präzise geführt, mit dem Ziel zu töten. Das gehärtete Metall traf die Stirn mit einem hohlen Plong. Blut spritzte auf den Boden und an die Wände. Ellies Augen verdrehten sich bis ins Weiße, dann kippte sie zur Seite weg.
    Saskia holte noch einmal aus und verharrte dann. Den Stiel fest umklammert, das Blatt hoch über ihrem Kopf. Heftig atmend beobachtete sie den Fleischberg zu ihren Füßen, wartete auf eine Bewegung, auf ein Zucken der Hände. Jeder Muskel war bis zum Äußersten gespannt. Dabei hatte sie eigentlich keine Kraft mehr, alles, was sie jetzt
noch aufrecht hielt, war der Wille, diese Frau zu töten. Und so würde sie wieder und wieder zuschlagen, sollte sie sich noch einmal erheben.
    Aber Ellie Brock rührte sich nicht mehr.
    Saskia begann unkontrolliert zu zittern. Sie konnte die Schaufel nicht länger halten, ließ sie fallen und sank neben Sebastian auf die Knie.
    Seine Augen waren geschlossen. Sein Gesicht, blutverkrustet, wirkte entspannt. Saskia beugte sich tief über ihn, legte eine Hand an seinen Hals und hielt ihr Ohr dicht an seine Lippen. Keine Atmung! Nein, das durfte nicht sein! Nicht jetzt, wo Ellie Brock endlich besiegt war. Er durfte sie nicht verlassen!
    »Sebastian, bitte …«
    Saskia drückte ihre Lippen auf seine. Sie fühlten sich warm an, also konnte er doch gar nicht tot sein! Nach einem kurzen Zögern führte Saskia fort, was Ellie Brock begonnen hatte. Irgendwann hatte sie den Rhythmus mal gelernt. Fünfzehnmal pressen, dreimal beatmen. Fünfzehnmal pressen, dreimal beatmen …
    So fand Derwitz sie vor, als er wenige Minuten später am Ende seiner Kräfte angelangt in die Diele stolperte. Und er schaffte es nicht, Saskia Eschenbach vom leblosen Körper Sebastian Schneiders wegzubekommen.

Epilog

    Zwei Farben hatte der Himmel an diesem frühen Morgen Ende Juli. Unten im Tal lag eine dünne dunstige Schicht über dem Dorf, in der das frühe Sonnenlicht gefiltert wurde. Über dieser Schicht strahlte es gleißend hell vor einem blauen Himmel, darunter war es milchig mit einem Stich ins Purpurne. Zwei Farben, die das Tal gleichsam in zwei Welten aufteilten. Die Welt oben, in der sich der Schneiderhof befand, die Welt unten, in der das wirkliche Leben stattfand.
    Reglos stand Saskia Eschenbach auf dem Treppenabsatz vor der Haustür und nahm den Anblick in sich auf. Die Übelkeit, die sie seit einigen Tagen morgens quälte, verging in der frischen Luft so schnell, wie sie gekommen war. Sie schloss die Augen, atmete tief ein, hielt für ein paar Sekunden inne, fühlte die kühle Luft auf ihrer Haut, schmeckte und roch alles, was sich darin befand. Ihre Sinne waren so sensibel wie nie zuvor, als müssten sie die gesamte Welt aufsaugen, solange sie sich noch darin befand. Alles war endlich, jede Sekunde kostbar. Noch vor ein paar Monaten war ihr das nicht klar gewesen.
    Ein paar Monate! Stimmte das? Manchmal kam es ihr vor, als sei all das in einem anderen Leben geschehen, vor unendlich langer Zeit, aber dann gab es auch wieder Tage, an denen es ihr vorkam, als sei es gestern gewesen. Wann hatte sie zum allerersten Mal Sebastian auf jener Wiese am Rande der Koppeln geküsst? Als der Frühling in den Sommer
überging, als die Blütezeit ihren Höhepunkt erreicht hatte und die Luft geschwängert gewesen war von den unterschiedlichsten Düften. Ja, daran konnte sie sich gut erinnern. Damals war alles voller Zukunft und Hoffnung gewesen. Das Jahr, der Sommer, ihre Liebe; alles hatte an seinem Beginn gestanden.
    Das war vorbei! Zwar gab es noch eine Zukunft, denn die gab es ja immer, aber sie hatte nichts mehr mit jener zu tun, die Saskia sich noch vor ein paar Monaten erhofft und erträumt und scheinbar schon sicher in den Händen gehalten hatte. Vorbei! Der Sommer hatte noch ein paar Wochen, das Jahr noch einige Monate, und die
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