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Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein

Titel: Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
Autoren: Andreas Winkelmann
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Hatte
er die Hälfte der Strecke bereits hinter sich? Dunkelheit umgab ihn. Außer dem recht gut sichtbaren Trampelpfad, der von den Hufen der Pferde tief in den Waldboden eingegraben war, konnte er nicht viel erkennen. Wiegand hatte ihn auch noch nicht angerufen. Wenn er Glück hatte, erreichten sein Assi und das MEK den Hof vor ihm.
    Hoffentlich!
    Derwitz richtete sich wieder auf und ging weiter. Zuerst nur im Schrittempo, dann begann er langsam zu laufen. Mehr war einfach nicht drin. Er würde es niemals bis zum Hof schaffen, wenn er nicht langsamer machte. Und schließlich hatte der Anwalt ja selbst Schuld! Mussten er und Hötzner denn unbedingt allein das Haus der alten Kreiling stürmen? Sie hätten die Brock längst gehabt, wenn die beiden auf seine Anweisung gehört hätten.
    Selbst schuld!
    Trotzdem nagte es in seinem Inneren, das Mädchen, das ja eigentlich überhaupt nichts mit der ganzen Sache zu tun hatte, in Gefahr gebracht zu haben. Schon allein ihretwegen hätte er die Bewachung nicht einstellen dürfen. Verdammte Eitelkeit!
    Er begann wieder schneller zu laufen, weil er meinte, irgendwo da vorn den Waldrand erkannt zu haben. Zwischen den Bäumen hindurch hatte es hell geschimmert. Mondlicht wahrscheinlich!
    Plötzlich zerriss ein Schuss die Stille.
    Derwitz blieb abrupt stehen, hielt für Sekunden den Atem an. Dann spurtete er los, spürte keinen Schmerz mehr, rannte wie in Trance, die Waffe in der rechten Hand.
     
    Sebastian Schneider spürte seinen Hals enger werden und die Bronchien sich verkrampfen. Der Odem des Lebens
strömte nicht mehr länger in seinen Körper, gelangte nicht mehr in sein Blut, das nichts wert war ohne Sauerstoff. Die Schleuse, die über Leben und Tod entschied, schloss sich langsam, aber unerbittlich.
    Vergiss nicht den Inhalator! Vergiss niemals, ihn aufzufüllen und auf den Nachtschrank zu stellen, du könntest sonst sterben!
    Annas Worte, die er so oft gehört hatte während seiner Kindheit, drangen aus weiter Entfernung zu ihm. Er hatte es nicht vergessen. Der Inhalator stand genau dort, wo er jede Nacht stand: Auf dem Nachtschrank neben seinem Bett. Doch dieser Ort war unendlich weit entfernt – keine Chance, ihn zu erreichen.
    Während ihm die Luft ausging und es langsam schwarz wurde vor seinen Augen, spürte Sebastian jedoch eine Veränderung. Es war nicht so wie früher, nicht wie all die anderen Male, als der Riese in seine Träume eingedrungen war. Er griff zwar auch jetzt nach ihm, presste seinen Feueratem in seinen Körper, wo er Atemwege und Lunge verbrannte. Aber während die Schleuse des Lebens sich endgültig schloss und kein rettendes Medikament sie davon abhielt, öffnete sich in Sebastians Kopf eine andere Schleuse, eine Tür. Diese Tür hatte er noch nie gesehen, denn noch nie war er diesen einen Schritt über die Schwelle des Todes getreten. War es eine Fluchttür? Hätte er all die Jahre auf den Inhalator verzichten können, weil es diese Tür gab?
    Sie öffnete sich. Dahinter lag ein langer, schwarzer Gang. Wohin er führte, wusste Sebastian nicht, es spielte aber auch keine Rolle. Dieser Gang war eine Chance, eine Möglichkeit, vielleicht für sein Leben, vielleicht für Saskias Leben. Und, was am wichtigsten war, diesen Gang konnte er selbst mit gefesselten Fußgelenken gehen.

    Sebastian betrat ihn ohne Furcht. Und schon nach wenigen Schritten wusste er, dass er schon einmal an diesem Ort gewesen war. Vor langer Zeit zwar, aber die Erinnerung war nicht gänzlich gelöscht. Der Gang war finster und ohne Konturen und schien sich ständig zu verändern. Er war wie eine Röhre in die Unendlichkeit, ein Wurmloch, das Raum und Zeit überwand. Und er war kurz! Kaum betreten, spürte Sebastian, dass er angekommen war. Ein atemberaubendes Gefühl durchdrang seinen Körper mit Wucht, ließ ihn Angst und Schmerz augenblicklich vergessen. Er fühlte sich wohl, so wohl, wie nur ein ungeborenes Kind sich im schützenden Leib der Mutter fühlen kann. Dieser Ort war verzaubert. Es war ein Ort jenseits des Riesen, hier konnte er sich verstecken, hier konnte ihm der Feueratem nichts mehr anhaben.
    Und er war nicht allein!
    Sie war da!
    An diesem Ort war ihrer beider Leben untrennbar miteinander verknüpft. Das war so seit Anbeginn der Zeiten, und nichts hatte jemals etwas daran ändern können. Keine Trennung, keine Entfernung, keine Türen oder Gitterstäbe. Sebastian war lange nicht mehr dort gewesen und hatte die Existenz dieses Ortes fast vergessen. Aber das
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