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Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein

Titel: Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
Autoren: Andreas Winkelmann
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spielte keine Rolle. Jetzt war er zurück. Keine Sekunde war vergangen, seitdem er gegangen war. Zeit war hier bedeutungslos. Alles war ihm vertraut. Er spürte Nähe, Geborgenheit, Wärme … und Liebe.
    Irgendwo weit entfernt grollte die Stimme des Riesen, fegte wie ein Gewittersturm über ihn hinweg. Der Riese ängstigte ihn nicht mehr. Er konnte gegen ihn bestehen. An diesem Ort konnte er gegen alles bestehen. Also hielt er sich aufrecht, hob das Kinn und atmete tief ein.

    »Mutter!«
    »Hans, mein Sohn!«
    »Du musst jetzt aufhören Mutter, es ist vorbei.«
    »Nein! Es wird niemals vorbei sein. Wir sind untrennbar miteinander verbunden. Für alle Zeiten.«
    »Lass mich einfach gehen, bevor es zu spät ist. Deine Liebe ist zu groß, sie hat schon zu viel Schaden angerichtet.«
    »Schweig, mein Sohn, lass mich nur machen. Du wirst sehen, alles kommt in Ordnung, und dann sind wir wieder zusammen.«
    »Hör jetzt auf, Mutter, bitte!«
    »Nein! Niemals!«
    »Geh jetzt, sonst gehe ich.«
     
    Das Mondlicht brach durch eine Lücke in der Wolkendecke und riss die Landschaft aus der Dunkelheit. Saskia öffnete die Augen. Warum schoss sie nicht endlich? Warum brachte sie es nicht hinter sich?
    Hinter sich hörte Saskia schweres, schnelles Atmen. Sie drehte sich um. Ellie Brocks gewaltiger Körper bebte. Der Lauf des Gewehrs war zu Boden gesunken. Die Augen der Frau waren weit aufgerissen, die Pupillen verschwunden, nur das Weiße noch zu sehen. Es reflektierte auf unheimliche Weise das Mondlicht. Tränen liefen ihr über die Wangen. Ohne dass ein Laut ihre Lippen verließ, schien sie unablässig ein und dasselbe Wort zu formulieren. Saskia kam der Anblick der Frau bekannt vor. Genauso hatte Sebastian während seiner Anfälle ausgesehen.
    Saskia ging einen vorsichtigen Schritt rückwärts, dann noch einen. Ellie Brock reagierte nicht darauf, sie schien sie überhaupt nicht mehr wahrzunehmen. Plötzlich schloss sich die Lücke in der Wolkendecke, und es wurde finster.

    Deine Chance, das hier ist deine letzte Chance!
    Ansatzlos lief Saskia los. Auf dem nassen Gras rutschte sie mit ihren nackten Füßen aus, stolperte, fing sich wieder, lief weiter. Die Ecke des Anbaus! Wenn sie die Ecke erreicht hatte, war sie in Sicherheit! Vorläufig!
    Sie hatte sie fast erreicht, da gellte hinter ihr ein lauter Schrei auf, gleichzeitig donnerte das Schrotgewehr. Saskia ließ sich fallen, drückte sich ganz flach auf den Boden. Sie spürte das nasse Gras an den nackten Beinen und im Gesicht. Das weite T-Shirt klebte feucht an ihrem Körper. Aber sie spürte keine Schmerzen und kein warmes Blut. Der Schuss hatte sie verfehlt!
    Zitternd lag Saskia am Boden, versuchte die Dunkelheit mit den Augen zu durchdringen. Folgte Ellie Brock ihr? Sie konnte es nicht erkennen. Sie musste weg hier! Weiter, nicht abwarten! Auf Händen und Knien kroch Saskia um die Ecke des Anbaus. Sofort flammte über ihr ein Scheinwerfer auf. Eng an die Wand gepresst verharrte sie. Wieder zerriss die Wolkendecke und ließ den Mond hindurchscheinen. Saskia spähte um die Mauerecke zurück. Dort, wo sie Ellie Brock zurückgelassen hatte, war nichts zu sehen. Und diese Frau konnte sich nicht verstecken, nicht hier.
    Saskia zog sich hinter die Ecke zurück. Ihr Atem ging schnell, hart schlug ihr Herz. Ihre Augen huschten hin und her. Was sollte sie tun?
    Vor sich sah sie den Misthaufen, daneben eine alte Tonne, aus der mehrere Stiele ragten. Sie huschte hinüber, packte einen der Stiele und zog ihn heraus. Es war ein Besen. Unbrauchbar. Achtlos ließ sie ihn fallen, packte den nächsten Stiel und zog ihn heraus. An dessen Ende befand sich eine Plattschaufel. Schon besser! Immer noch eine erbärmliche Waffe gegen jemanden, der mit einem Gewehr bewaffnet
war, aber besser als gar nichts. Allein das Gefühl, etwas in der Hand zu haben, mit dem sie zuschlagen konnte, ließ Zuversicht und Mut zurückkehren.
    Den Stiel der Plattschaufel fest umklammert lief Saskia um den ganzen Anbau herum zur anderen Giebelseite der Scheune. Sie drückte sich zwischen dem alten Traktor und der Wand hindurch, riss sich einen Holzstachel in den Oberschenkel, spürte den Schmerz aber kaum. Den letzten Meter bis zur Ecke schob sie sich tastend vorwärts. Durch die Wand hindurch konnte sie die unruhigen Pferde hören.
    Sie spähte um die Ecke. Das Licht aus der Diele warf ein langes, helles Rechteck auf den Hof. Ellie Brock war nirgends zu sehen.
     
    »Haaaaaaans!«
    »Mutter, gib mich endlich
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