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Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein

Titel: Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
Autoren: Andreas Winkelmann
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Seitenscheibe, überall Blut. Ein totes Gesicht.
    Sein Magen verkrampfte sich, das Frühstück kam in ihm hoch. Das Taubheitsgefühl erfasste plötzlich seinen ganzen Körper, die Beine wollten sein Gewicht nicht mehr tragen, er taumelte gegen seinen Wagen, klammerte sich mit der rechten Hand an die geöffnete Tür.
    »He, he, he!«
    Der Bauarbeiter griff ihm unter die Achseln.
    »Ist wohl doch besser, Sie setzen sich erst mal.«
    Widerstandslos ließ sich Sebastian von seinem Wagen wegführen. Weg von dem toten Gesicht, nur weg, nicht noch mal hinsehen. Die Menschenmasse teilte sich vor ihnen. Tuscheln, Raunen, Blicke, laute Einsatzsirenen. In seinem Kopf geriet alles durcheinander. Der Bauarbeiter führte ihn zu einem Ampelmast, drückte ihn zu Boden, lehnte ihn mit dem Rücken dagegen. Sebastian presste sich die Hände vors Gesicht. Es nützte nichts. Das Bild hatte sich eingebrannt. Ein totes Gesicht.
     
    Sebastian wurde nicht bewusstlos, kam aber trotzdem erst in der Notaufnahme des Krankenhauses wieder zu sich. Der Notarzt, die Sanitäter, die Fahrt im Rettungswagen, angeschnallt auf einer Trage, all das bekam er zwar mit, aber es fand keinen Zugang in seinen Kopf, blieb außen vor, so als ginge es ihn überhaupt nichts an.
    Nachdem ihm eine Ärztin ein Beruhigungsmittel gespritzt und er eine halbe Stunde geruht hatte, setzten die logischen Vorgänge innerhalb des Gehirns wieder ein. Der komfortable Zustand des Losgelöstseins von der Welt verabschiedete
sich. Leider. Er ließ eine weitere Untersuchung über sich ergehen. Außer einem sich langsam einfärbenden Abdruck des Sicherheitsgurtes über seiner Brust hatte er keine Verletzungen davongetragen. Nachdem das Beruhigungsmittel den anfänglichen Schock vertrieben hatte, konnte er das Krankenhaus mit ärztlichem Segen verlassen. Er rief seine Eltern an und bat sie, ihn abzuholen. Selbst wenn sie sich beeilten, was sie ohne Zweifel tun würden, benötigten sie mindestens eine Stunde. Eine Stunde Wartezeit in der Notaufnahme eines Krankenhauses. Vortrefflich viel Zeit für Vorwürfe.
    Sie trifft keine Schuld , hatte der Bauarbeiter gesagt. Trotzdem: Wäre sein Kopf nicht voller Trotzek gewesen, hätte er seinen Wagen vielleicht etwas schneller zum Stehen gebracht und damit Schlimmeres verhindert.
    Hätte, wäre, könnte!
    Die Frau am Steuer des Kleinwagens war nicht tot, das hatte ihm der Sanitäter im Rettungswagen bereits gesagt. Darüber hinaus wusste Sebastian aber rein gar nichts. Wie schwer waren ihre Verletzungen? War sie in der Notaufnahme vielleicht doch noch verstorben?
    Sebastian sprang auf, verließ die Sitzecke vor der Notaufnahme und postierte sich gut sichtbar auf dem Korridor. Es dauerte nicht lange, bis leises Quietschen von Gummisohlen auf dem Korridor jemanden ankündigte. Eine Schwester kam ihm entgegen. Eine dicke ältere Frau mit freundlichem Gesicht. Er hatte sie vorhin, während er untersucht worden war, schon beobachtet. Sie schien die Einzige zu sein, die bei der Hektik in der Notaufnahme noch Zeit für ein Lächeln fand. Sebastian nahm seinen Mut zusammen und trat ihr entgegen, versperrte den Gang.
    »Sie sind noch da?«, fragte die Schwester.

    »Ja, ich … ich wollte noch … können Sie …«
    Ihre dicken Augenbrauen senkten sich über der Nasenwurzel zusammen.
    »Ja?«
    »Ich … diese Frau, mit der ich den Unfall hatte, wissen Sie, wie es ihr geht?«
    Die Augenbrauen entspannten sich. Die Schwester trat einen Schritt vor und tätschelte seinen Oberarm.
    »Frau Eschenbach ist außer Gefahr. Ihre Verletzungen sind nicht lebensbedrohlich. Machen Sie sich keine Sorgen, in ein paar Tagen geht es ihr wieder besser. Wir kümmern uns hier um sie.«
    »Wirklich?«
    »Aber natürlich.«
    Sie hakte sich bei ihm unter und führte ihn in Richtung Ausgang. Sebastian ließ es mit sich geschehen. Mit diesen wenigen Sätzen schaffte die Schwester, was das Beruhigungsmittel nicht geschafft hatte. Jetzt konnte er das Krankenhaus wirklich verlassen.
     
    Mechthild Kreiling starrte auf die Einstichstellen in ihrem Unterarm. Sie waren von kundiger Hand gesetzt worden und hatten kaum Verfärbungen hinterlassen. Trotzdem störte sie sich daran. Sie hatte Spritzen nie gemocht, auch keine Ärzte. Mit Ziegenmilch und viel frischer Luft war sie auch ohne die Quacksalber in weißen Kitteln achtundachtzig Jahre alt geworden. Darauf war sie ausgesprochen stolz. Umso mehr ängstigte und ärgerte sie ihr jetziger Zustand. Seit dem bösen Sturz vor einer Woche
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