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Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein

Titel: Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
Autoren: Andreas Winkelmann
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Regung.
    »Merkwürdig, aber eindeutig nicht für dich.«
    »Wieso? Mein Name steht auf dem Umschlag.«
    »Aber hier steht Lieber Hans . Du heißt nicht Hans, oder? Also muss es sich um eine Verwechslung handeln.«
    Edgar gab den Brief an seinen Sohn zurück und stand ruckartig auf. »Ich muss beim Deutz die Glühkerzen reinigen. Dauert bestimmt eine Stunde.«
    An der Küchentür drehte er sich noch einmal um.
    »Vielleicht öffnet bei der Post jemand Briefe und hat den falschen Brief in den Umschlag gesteckt. Perverse und Spinner gibt es heutzutage doch überall.«
    Dann ging er hinaus.
    Anna warf ihrem Mann einen langen Blick hinterher. Sebastian dachte, dass sein Vater mit dieser Vermutung recht haben könnte. Damit wäre auch der zusätzliche Streifen Tesafilm erklärt. Er zerknüllte den Brief und warf ihn mitsamt dem Umschlag in den Mülleimer.

Dienstag
    Die Luft war klar.
    Nur in flachen Tälern zwischen den weitläufigen Tannenwäldern hielten sich letzte Reste von Nebel, schon jetzt den Sonnenstrahlen hilflos ausgeliefert. Die Farbe des Himmels lag irgendwo zwischen Weiß und Blau; eine milchige Melange, typisch für den frühen Morgen eines klaren Tages im erwachenden Sommer. Weit voraus, in einer Entfernung, in der alles miteinander verschmolz, weidete auf freier Fläche Dammwild in sicherer Entfernung zum Wald. Mit einer sanften Brise wehte würziger Geruch aus dem Wald herüber. Der Geruch verrottender Blätter und Nadeln aus dem vergangenen Herbst. Vier oder fünf Wochen noch, dann würde dieser feuchte, erdige Geruch dem des Sommers gewichen sein. An den Nachmittagen war die Sonne schon seit einigen Tagen sehr kräftig, der Wald begann zu trocknen. Diesen beinahe unmerklichen Übergang vom Frühling zum Sommer mochte er besonders gern. Es war eine Zeit des Wechsels, des Erneuerns.
    Sebastian Schneider stützte sich auf den Rand des Sattels, beugte sich nach vorn und tätschelte den kräftigen Hals des Wallachs. Falco drehte den Kopf und blickte ihn aus seinen dunklen Augen an. Sebastian meinte, darin Freude über den ungewöhnlichen Ausritt erkennen zu können, wahrscheinlich projizierte er jedoch nur seine Empfindungen auf das Pferd. Ganz sicher aber vermissten sowohl Falco als auch er die gemeinsamen Ausritte durch die
Wälder, die sie früher mit großer Regelmäßigkeit unternommen hatten. Seit er das Studium beendet hatte, fraß der neue Job den größten Teil seiner Zeit.
    »Das wird ein schöner Tag. Was meinst du, alter Junge?«
    Falco stimmte wortlos zu.
    In gemächlichem Trab ließen sie den Hof weit hinter sich. Sebastian – zwei Stunden, bevor der Wecker geklingelt hätte, von einem rasenden Traum-Trotzek aus dem Schlaf gerissen – versuchte den vor ihm liegenden Tag zu verdrängen. Er konzentrierte sich auf das Pferd unter sich, passte sich dessen Rhythmus an und ließ sich vom Geruch, der Wärme und den Geräuschen des Tieres gefangennehmen.
    Sie näherten sich dem Waldrand. Die langen Stämme der Kiefern glänzten im Sonnenlicht. Ein ausgetretener Pfad führte zu einer Art Eingang, den Sebastian vor Jahren mit Axt und Säge selbst geschaffen hatte. Er führte in einen weitläufigen Nadelwald, und wie die meisten Wälder rings um den Hof war auch er im Besitz seiner Eltern. Das Unterholz war undurchsichtig; seit dem Holzeinschlag vor drei Jahren hatte sich dank des vermehrten Lichteinfalls giftiger Holunder, amerikanische Traubenkirsche und Brombeere durchgesetzt. Hoch oben befand sich das löchrige Dach aus Kiefern, Fichten und Douglasien. Eine eigentümliche, sehr dichte Atmosphäre erfüllte den Wald. Die Strahlen der Sonne, durch das Nadeldach gefiltert und zu einzelnen, scharf umrissenen Lanzen gebündelt, wirkten wie Fremdkörper. Sie sprenkelten den Waldboden mit zuckenden, wandernden Lichtpunkten.
    Ein Geräusch im Unterholz schreckte Falco auf. Er schnaubte laut. Sebastian brachte ihn zum Stehen und sah sich um. Ein Hase flüchtete in wildem Zickzackkurs und verschwand zwischen den Brombeerranken. Ohne dass
Falco wirklich geführt werden musste, folgte er dem ausgetretenen Pfad durch eine lang gezogene Senke, erklomm den gegenüberliegenden Hügel und erreichte alsbald das Ufer des Sees. Auf der anderen Seite des großen, in der Form eines angebissenen Apfels geschaffenen Sees begann Land, das nicht mehr seinen Eltern gehörte. Nach Westen hin stieg das Gelände steil zu einem felsigen Hochplateau an, dem Adlerrücken. Weiß schimmernder Kalkstein blitzte hier und dort
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