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Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein

Titel: Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
Autoren: Andreas Winkelmann
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um was für einen Ordner es sich handelte. Er seufzte vernehmlich. »Natürlich erinnere ich mich. Aber was soll das? Hatten wir nicht abgesprochen, dass er für alle Zeiten in seinem Versteck bleibt?«
    »Ich weiß … ich weiß.«
    Anna rutschte zur Seite und bedeutete Edgar, er möge sich neben sie setzen. Der Schreibtischstuhl sank unter ihrer beider Gewicht tief ein. Edgar legte seinen Arm um ihre Schulter. »Warum hast du ihn hervorgeholt? Wegen des Unfalls?«
    »Auch, ja. Aber nicht nur.«
    »Und warum noch?«
    Anna öffnete eine Schublade, hob ein Paket Druckerpapier an und zog den zerknitterten, notdürftig geglätteten Brief hervor. Sie legte ihn neben den Ordner. »Deshalb.«
    Edgar seufzte noch lauter und schüttelte den Kopf. »Ich hab es mir schon gedacht. Warum hast du ihn nicht einfach im Mülleimer gelassen? Warum machst du dich verrückt wegen einer dummen Verwechslung?«
    Sie sah ihn an. »Und wenn es keine ist?«
    »Es ist eine!«

    »Ich meine ja nur …«
    »Nein, Anna!«
    Edgar stand ruckartig auf, ging zum Fenster und sah hinaus in die Dunkelheit. »Allein schon die letztendliche Konsequenz deiner Befürchtungen müsste dir sagen, dass es unmöglich ist. Es ist nichts weiter als eine dumme Verwechslung. Irgendjemand bei der Post öffnet Briefe, liest sie und steckt sie wieder zurück. Dabei ist ihm ein Fehler unterlaufen.«
    Er kam zum Schreibtisch zurück, stützte sich mit den Händen ab, sah sie an.»Eine andere Erklärung gibt es nicht. Was du dir zusammenreimst, kann nicht sein.«
    »Aber diese Liedstrophe … und diese Worte, sie klingen wie eine Drohung. Was, wenn man uns damals belogen hat?«
    Edgar schnappte sich den Brief, hielt ihn unter die Lampe und las. Dann schüttelte er den Kopf, knüllte den lila Zettel zusammen und warf ihn in den Papierkorb.
    »Dummes Geschwafel. Das hat mit uns nicht das Geringste zu tun. Morgen früh, wenn er aus dem Haus ist, bringst du den Ordner wieder zurück. Und bevor du jetzt noch etwas sagst: Nein, ich denke nicht daran, unsere Abmachung zu brechen, nur weil unser Sohn einen Unfall hatte. Es hat sich nichts geändert.«
    Anna sah ihren Mann aus feuchten Augen an. Er ging um den Schreibtisch herum, drehte den Stuhl mit ihr darauf zu sich und küsste sie abermals auf den Kopf.
    »Anna … meine Anna. Du hast dir schon immer zu viele Sorgen gemacht. Vergiss es einfach. Es hat nichts zu bedeuten.«

Donnerstag
    Blutroter, giftiger Nebel steigt vom Boden auf, hüllt ihn ein, frisst sich durch seine Haut in den Körper. Er presst die Lippen fest aufeinander, hält die Luft an. Nur nicht atmen, nicht atmen, denn sobald dieses rote Gift in deinen Mund eindringt, bist du verloren. Du darfst auf keinen Fall atmen! Und doch reißt er den Mund auf und saugt die ätzende rote Substanz ein, als sei sie reine, klare Bergluft. Der Schmerz kommt sofort, ist enorm und unerträglich. Seine Lunge verkrampft sich, ist plötzlich nicht mehr in der Lage, seinen Körper mit Sauerstoff zu versorgen. Weit reißt er den Mund auf, ringt und kämpft, röchelt und krepiert …
    Keuchend und grunzend kam Sebastian zu sich. Seine Hand schnellte zum Nachtschränkchen, ein geübter Griff, der Aerosol-Inhalator stand an seinem Platz, immer. Er presste sich das Munstück gegen die Lippen, sprühte und atmete das krampflösende Medikament ein. Augenblicklich brachte es ihm Linderung. Tief Luft holend sank er in die Kissen zurück, schloss die Augen, horchte in sich hinein und stellte fest, dass alles wieder in Ordnung war. Als er die Augen öffnete, sah er schwaches graues Licht durchs Fenster hereindämmern. Der Morgen war nicht mehr weit entfernt. Ein Blick auf die lumineszierenden Ziffern und Zeiger des Weckers bestätigte dies. Fast fünf.
    Verdammter Mist, schon wieder!
    Verschwitzt in seinem Bett liegend traf Sebastian eine
Entscheidung, die er seit gestern vor sich her schob. Seine Annahme, die Worte der Krankenschwester würden reichen, hatte sich als Irrtum erwiesen. Das tote, blutüberströmte Gesicht der Frau war ihm bereits gestern Nacht erschienen und hatte einen Erstickungsanfall ausgelöst. Diese Anfälle kannte er, seit er denken konnte, allerdings nicht in dieser Häufigkeit. Stress, schlechte Träume, aber auch ungewohnte Situationen konnten dazu führen, dass sich die Bronchialäste seiner Lunge verkrampften. Die Ursache dieser Anfälle, die er ausschließlich nachts bekam, vermuteten die Ärzte im vegetativen Nervensystem – eine schwammige Diagnose, die
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