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Gute Nacht, Peggy Sue

Gute Nacht, Peggy Sue

Titel: Gute Nacht, Peggy Sue
Autoren: Tess Gerritsen
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Dr. Novak war geradlinig. Das schätzte er. Was er nicht geschätzt hatte, waren ihr scharfer Blick und ihre sensiblen Antennen gewesen. Sie hatte mehr gesehen, als er zu verraten bereit gewesen war.
    Er reihte sich in den Verkehrsstrom auf dem Freeway ein. Nach Surrey Heights war es eine halbe Stunde Fahrt. Er wollte raus aus der City, raus aus dem grauen, trostlosen Beton.
    Dann kam er an das Schild mit der Aufschrift »Ausfahrt South Lexington, 700 Meter«.
    Er traf eine emotionale Entscheidung, folgte einem verrückten Impuls, geboren aus Schuldgefühlen. Er nahm die Ausfahrt und folgte der Kurve, bis diese in die South Lexington Avenue mündete. Plötzlich fuhr er durch Kriegsgebiet. Die Gegend um das Gerichtsmedizinische Institut war schon schäbig genug, aber die Gebäude waren wenigstens bewohnt, die Fensterscheiben intakt.
    Hier, auf der South Lexington, war es schwer vorstellbar, daß andere Lebewesen als Ratten hinter den roten Backsteinmauern und zerborstenen Glasscheiben hausen sollten. Er fuhr an leerstehenden Lagerhäusern und aufgegebenen Geschäften vorbei; allesamt verkommene Zeugnisse aus besseren Zeiten der Stadt. Zwei Meilen weiter südlich, hinter der verlassenen Gerberei von Johan Weir, erreichte er die Projects. Sie waren bereits aus mehreren Blocks Entfernung zu sehen, jene sieben grauen Wohnsilos, die vor einem gleichermaßen bleiernen Himmel aufragten.
    Sie waren Überbleibsel aus einem längst vergangenen Zeitalter, entstanden aufgrund respektabler Absichten und doch durch Lage und Konzeption zum Verfall verdammt. Man hatte sie meilenweit entfernt von den Arbeitsstätten aus monolithischem Beton erbaut und ihnen ein Gesicht gegeben, das eher an Gefängnistürme als an sozialen Wohnungsbau erinnerte. Und doch waren sie bewohnt geblieben. Er sah Autos an der Straße parken, Menschengruppen, die sich an Straßenecken zusammenrotteten, einen Mann, der auf der Treppe vor seiner Wohnungstür kauerte, ein Kind, das in einer schmalen Seitengasse unter einem Basketballkorb spielte. Sie alle hoben den Blick, als Adam vorbeifuhr. Jedes Augenpaar registrierte sein Eindringen, seinen territorialen Übergriff.
    Adam fuhr einen Block weiter, wendete und parkte vor Gebäude Nummer 5 auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
    Eine Stunde saß er dort in seinem Wagen, beobachtete die Gehsteige und die Seitengassen, den Spielplatz gegenüber. Mütter schoben Babys in Kinderwagen über Glas- und Mauerschutt auf den Bürgersteigen. Kleinkinder spielten Himmel und Hölle am Straßenrand.
Sogar hier,
dachte er,
geht das Leben weiter.
Er wußte, daß die Leute ihn beobachteten. Das taten sie schließlich immer und überall.
    Jemand klopfte an seine Fensterscheibe. Er sah durch das abgedunkelte Glas nach draußen und entdeckte eine junge Frau. Sie hatte eine wilde, ungekämmte schwarze Haarmähne, dunkle Augen und ein weißes, mit einer dicken Make-up-Schicht bedecktes Gesicht. Bei näherem Hinsehen erkannte er, daß sich unter all dem Rouge und Puder fast noch ein Kindergesicht verbarg.
    Erneut klopfte sie an die Scheibe. Er ließ sie ein paar Zentimeter weit herunter.
    »Hey, Schätzchen«, sagte sie zuckersüß. »Suchst du vielleicht mich?«
    »Ich suche Maeve«, antwortete er.
    »Kenne keine Maeve. Na, wie wär’s mit uns?«
    Er lächelte. »Lieber nicht.«
    »Bin für alles offen. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.«
    »Nicht interessiert. Wirklich. Danke.« Er schloß das Fenster wieder.
    Ihr Lächeln verschwand umgehend. Aus ihren Augen sprach Haß. Sie murmelte eine Obszönität, die selbst durch das geschlossene Fenster zu hören war, drehte sich um und ging davon.
    Er beobachtete, wie sie in ihren hautengen Jeans die Straße hinaufschlenderte, sah, wie sie bei einer Gruppe junger Männer anhielt. Automatisch neigte sie den Kopf zur Seite und lächelte. Auch hier stieß sie auf Desinteresse. Achselzuckend setzte sie ihren Weg fort.
    Irgend etwas an der jungen Frau … ihr rabenschwarzes Haar vielleicht oder der Gang, der der Welt zu sagen schien:
Ich kann auf mich selbst aufpassen,
kam ihm vertraut vor. Beides erinnerte ihn an Dr. Novak, die Frau ohne Vornamen. Sie hatte diese dichte, bläulichschwarze Haarmähne, die ihr bis auf die Schultern fiel. Und ihr Gang, soviel hatte er in jenem Kellerflur registriert, hatte bei jedem Schritt diesen selbstbewußten Schwung gehabt. Plötzlich wünschte er, ihr die Wahrheit gesagt zu haben. Die Wahrheit über das Streichholzheftchen, über Maeve. Er
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