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Gut gegen Nordwind

Gut gegen Nordwind

Titel: Gut gegen Nordwind
Autoren: Daniel Glattauer
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sollten Sie ja schon anziehen, denke ich.
     
    Dreieinhalb Minuten später
    RE:
    Soll ich etwas anziehen, das die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass wir nach dem Begrüßungskuss die Jalousien nicht gleich wieder hochziehen, weil keiner von uns beiden eine Hand freihat?
     
    40 Sekunden später
    AW:
    Wenn Ihnen die Antwort nicht zu knapp ist: JA!
     
    Eineinhalb Minuten später
    RE:
    Ein »JA!« auf eine Frage, die nach einem »JA!« verlangt, kann mir nie zu knapp sein. Dann werde ich mich jetzt »herrichten«, wie man so schön sagt. Falls mein Herz den Brustkorb nicht durchschlägt, sehen wir uns in eineinhalb Stunden bei Ihnen, Leo.
     
    Dreieinhalb Minuten später
    AW:
    Sie läuten an der Fernsprechanlage bei »Top 15«. Im Lift geben Sie 142 ein, dann hinauf ins Dachgeschoss. Dort gibt es ohnehin nur eine Tür. Sie ist angelehnt. Dann links ins Zimmer, einfach der Musik nach. Ich freue mich wahnsinnig auf Sie!
     
    50 Sekunden später
    RE:
    Ich mich auch auf Sie, Leo. Ich mich auch auf DICH, Leo. Ich bin die Emmi. Und ich küsse niemand Fremden im Finsteren, mit dem ich nicht per Du bin. Du darfst hiermit ebenfalls DU zu mir sagen, Leo. Ich bin übrigens 34, zwei Jahre jünger als du, wenn’s gestattet ist.
     
    Zwei Minuten später
    AW:
    Emmi, ich glaube, ich muss mit dir noch einmal ausführlich über »Boston« reden. Du hast ein völlig falsches Bild von Boston, beziehungsweise von mir und Boston. Mit Boston ist es ganz anders, als du glaubst. Ich muss dir das erklären. Es gibt so viel zu erklären! Es gibt so viel zu verstehen! Verstehst du?
     
    Eineinhalb Minuten später
    RE:
    Langsam, langsam, Leo. Eines nach dem anderen. Boston hat Zeit. Erklären hat Zeit. Verstehen hat Zeit. Jetzt küssen wir uns erst einmal. Bis gleich, mein Lieber!
     
    45 Sekunden später
    AW:
    Bis gleich, meine Liebe!

KAPITEL ZEHN

Am nächsten Abend Betreff: Nordwind Lieber Leo, ich weiß, es ist unverzeihlich. Dein »Schweigen« beweist es mir. Du fragst nicht. Nein, du fragst nicht einmal. Das ist die Lektion, die du mir erteilst. Kein Tobsuchtsanfall, kein Rettungsversuch, keine Verzweiflungsaktion. Du machst gar nichts. Du bleibst stumm. Du lässt das alles wortlos über dich ergehen. Du fragst erst gar nicht, warum. Du tust so, als wüsstest du es. Damit bestrafst du mich zusätzlich. Deine Enttäuschung kann nur halb so groß sein wie meine. Denn zu meiner Enttäuschung rechnet sich die Vorstellung über deine dazu. Leo, ich sage dir, warum ich in letzter Sekunde – kein geflügeltes Wort, es war wirklich die letzte Sekunde –, ich sage dir, warum ich nicht zu dir gekommen bin. Schuld daran war ein Buchstabe, ein einziger falscher Buchstabe, an einem Ort, wo er nicht sein durfte, zum unglücklichsten aller Zeitpunkte. Und du, Leo, du hast mich noch gefragt: »Was wirst du Bernhard erzählen?« Erinnerst du dich an meine Antwort? – »Ich werde sagen: Ich treffe einen Freund.« – Genau das habe ich gesagt. »Er wird fragen: Kenne ich ihn?« – So hat er gefragt. »Ich werde antworten: Ich glaube nicht, ich habe kaum von ihm erzählt.« – Das habe ich ihm zur Antwort gegeben. »Dann werde ich noch sagen: Wir haben viel zu plaudern, es kann spät werden!« – Ja, exakt so habe ich es formuliert. »Und er wird sagen: Amüsiere dich gut.« – Ja, Leo, das hat er gesagt. Aber er hat noch ein Wort hinzugefügt. Er hat gesagt: »Amüsiere dich gut, EMMI.« Es war das gewohnte »Amüsiere dich gut«. Danach machte er eine Pause. Und dann kam dieses EMMI. Ein Hauch, nicht mehr als ein Hauch. Es ging mir durch Mark und Bein. Er nennt mich sonst »Emma«, immer nur Emma. »Emmi« hat er schon jahrelang nicht zu mir gesagt. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann er mich das letzte Mal so genannt hatte.
    Leo, das »I« statt dem »A«, dieser einzige fremde Buchstabe hat einen Schock in mir ausgelöst. Ich mochte es nicht aus seinem Mund. ER durfte es nicht so aussprechen. Es klang so entlarvend,so desillusionierend, so zerstörerisch. Als würde er ahnen, wie es um mich bestellt ist, als hätte er mich durchschaut. Als wollte er mir sagen: »Ich weiß es doch, du willst ›Emmi‹ sein, du willst endlich wieder ›Emmi‹ sein. Also sei ›Emmi‹ und amüsiere dich gut.« Und ich hätte ihm darauf etwas ganz Fürchterliches antworten müssen, ich hätte sagen müssen: »Bernhard, ich will nicht nur Emmi sein, ich BIN Emmi. Aber ich bin nicht deine Emmi. Ich bin die Emmi von jemand anderem. Er hat mich nie gesehen, aber er
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