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Gut gegen Nordwind

Gut gegen Nordwind

Titel: Gut gegen Nordwind
Autoren: Daniel Glattauer
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die Gelegenheit, neu zu beginnen. Ich habe plötzlich wieder Lust, eine Frau auf stinkkonservative Art kennen zu lernen: Zuerst sehe ich sie, dann höre ich ihre Stimme, dann rieche ich sie, dann küsse ich sie vielleicht. Und irgendwann später werde ich ihr wohl auch einmal eine E-Mail schreiben. Der umgekehrte Weg, den wir beschritten haben, war und ist wahnsinnig aufregend, aber er führt nirgendwohin. Ich muss meine Blockade im Kopf lösen.
    Monatelang habe ich in jeder schönen Frau, die mir auf der Straße begegnet ist, Emmi gesehen. Aber keine von ihnen konnte sich mit der wirklichen messen, keine konnte mit ihr in Konkurrenz treten, denn die Echte hatte ich fern jeder Öffentlichkeit, gesellschaftlich isoliert, abgeschieden, ganz für mich allein im Computer. Dort holte sie mich von der Arbeit ab. Dort wartete sie vor, nach oder statt dem Frühstück auf mich. Dort wünschte sie mir am Ende eines langen gemeinsamen Abends gute Nacht. Oft genug verweilte sie bis zum Morgengrauen bei mir, im Zimmer, im Bett, steckte mit mir insgeheim unter einer Decke. Doch letztlich blieb sie in jeder Phase unerreichbar, uneinnehmbar für mich. Ihre Bilder waren so zart und zerbrechlich, dass sie meinem realen Blick auf sie nicht standgehalten hätten, ohne sofort Risse und Sprünge zu bekommen. Diese künstlich entstandene Emmi erschien mir so filigran, dass sie in sich zusammengefallen wäre, hätte ich sie auch nur einmal echt berührt. Physisch war sie nicht mehr als die Luft zwischen den Buchstabentasten, mit denen ich sie mir Tag für Tag her-beischrieb. Einmal hineinpusten – und fort wäre sie gewesen. Ja, Emmi, für mich ist es so weit: Ich werde die Mailbox schließen, ich werde in meine Tastatur hineinpusten, ich werde den Bildschirm herunterklappen. Ich werde mich von Ihnen verabschieden. Ihr Leo.
     
    Am nächsten Tag
    Betreff: So ein Abschied?
    Das war Ihre letzte Mail? Das gibt es nicht! Ich verliere hiermit den Glauben an die letzte Mail. Leo, hallo! Ich erwarte mir keine humoristischen Glanzleistungen, wenn Sie sich aus dem Staub machen wollen. Aber was soll denn diese bittertragische Posse? Was ist das für ein Abschied? Wie muss ich mir das Gesicht dazu vorstellen, wenn Sie melodramatisch in die Tasten pusten? Ja, okay, ich hab mich ein bisschen gehen lassen in letzter Zeit. Ich habe auch bereits begonnen, herumzusülzen. Mein Gemüt, an sich ein Fliegengewicht, war manchmal schwerwie ein Betonsack. Ja, ich habe unsere Riesenpackung elektronische Post mit mir herumgetragen. Ich hab mich ein bisschen verliebt in Mister Anonym, das ist schon richtig. Wir beide haben einander nicht mehr so recht aus den Köpfen bekommen, da sind wir uns nichts schuldig geblieben. Aber es besteht kein Grund für uns, nun Tristan und Isolde auf virtuell daraus zu machen.
    Reisen Sie nach Boston, so reisen Sie nach Boston. Brechen Sie den E-Mail-Kontakt zu mir ab, dann brechen Sie ihn ab. Aber brechen Sie ihn nicht SO ab!!! Das ist sowohl schreiberisch als auch emotionell unter Ihrem Niveau und unter meiner Würde, lieber Freund. In die Tasten pusten, also Leeeeo! Was für ein Kitsch! Muss ich denken: »So hat der Typ die ganze Zeit zu mir gesprochen?«
    Bitte beweisen Sie mir, dass das nicht Ihre letzte Mail an mich war. Ich wünsche mir zum Abschluss etwas Positives, etwas Überraschendes, einen vollmundigen Abgang, eine gute Pointe. Sagen Sie zum Beispiel: »Und abschließend schlage ich Ihnen vor, dass wir uns treffen!« – Das wäre wenigstens ein witziges Ende. (So, und jetzt gehe ich heulen, wenn Sie erlauben.)
    Fünf Stunden später
    AW:
    Liebe Emmi, und abschließend schlage ich Ihnen vor, dass wir uns treffen!
     
    Fünf Minuten später
    RE:
    Aber nicht im Ernst.
     
    Eine Minute später
    AW:
    Doch. Damit würde ich nicht spaßen, Emmi.
     
    Zwei Minuten später
    RE:
    Was soll ich davon halten, Leo? Ist das eine Laune? Hatte ich Ihnen ein gutes Stichwort geliefert? Habe ich Sie mit meinen Worten vom Melodramatiker zum Realsatiriker bekehrt?
     
    Drei Minuten später
    AW:
    Nein, Emmi, das ist keine Laune, das ist gut überlegte Absicht. Sie sind mir einfach nur zuvorgekommen. Also noch einmal: Emmi, ich würde unsere E-Mail-Beziehung gerne mit einem Treffen ausklingen lassen. Es soll eine einmalige Begegnung sein, bevor ich nach Boston übersiedle.
     
    50 Sekunden später
    RE:
    Einmalig treffen? Was versprechen Sie sich davon?
     
    Drei Minuten später
    AW:
    Erkenntnis. Erleichterung. Entspannung. Klarheit.
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