Grün. Le vert de la Provence
anekelte.
Sie überholte zwei Lastwagen, die am Autobahndreieck aus
Richtung Aix gekommen waren. Lebensmitteltransporter aus Italien, die dicht an
dicht die nächtliche Fahrt nach Avignon oder weiter nach Lyon bewältigten, um
dort in den frühen Morgenstunden ihre Waren zu entladen. Zurückblickend
erkannte sie, dass auch andere Fahrer, wie sie, ihre Geschwindigkeit der Nacht
angepasst hatten. Kleine Lichtpunkte, die auf langen Geraden erkennbar in
gleichem Abstand folgten. Ein Scheinwerferpaar näherte sich, sie behielt es im
Auge, um rechtzeitig die Geschwindigkeit reduzieren zu können, wenn sie den
Verdacht hätte, es könnte ein Polizeifahrzeug sein.
Kurz vor Salon de Provence überholte sie der
Wagen. Ein großer Audi, grau, mit Kennzeichen sechzig. Das war irgendwo im
Norden, Picardie oder Pas-de-Calais ; sie erinnerte das von
gelegentlichen Aufenthalten dort an der Küste. Der Audi fuhr schnell, sehr
schnell. Eine Zeit lang konnte sie die Rücklichter beobachten, während beide
den Berganstieg ins Hinterland hinaufrasten. Wenige Minuten später hatte sie
den Audi wieder eingeholt, ohne ihre Geschwindigkeit erhöht zu haben. Während
sie überholte, sah sie, dass der Fahrer telefonierte. Nach dem Gespräch würde
er vermutlich wieder beschleunigen und sie erneut überholen.
In den vergangenen Wochen hatte sie nachts ausreichend
Gelegenheit gehabt, ungewöhnliches Fahrverhalten zu studieren und dabei eine
Typisierung von Autofahrern vorzunehmen, die häufig deutliche Ausprägungen nach
Automarken und Größe der Modelle zeigte. Ein Wissenszuwachs, auf den sie gern
verzichtet hätte, wenn nicht durch Eds Tod Seefelder zum bestimmenden Faktor
der Stiftungsidee geworden wäre, die er dann auch ausschließlich mit seinem
Kapital realisiert hatte.
Zunächst war Pauline zur Geschäftsführerin der Stiftung
bestellt worden. Ganz getreu Eds ursprünglichen Plänen. Sie hatte, da ihre
Aufzeichnungen verloren zu sein schienen, zunächst einzelne Beschreibungen
rekonstruiert. Seefelder hatte Botaniker und Biologen aus dem Konzern
abgestellt, die mit ihr zusammen Macchia und Wälder nach den beschriebenen
Pflanzen absuchten. Etliche Informationen schienen sie aber bereits zu
besitzen. Wie Valerie später herausfand, hatte Thomas Engler Ed gedrängt, von
Seiten aus Paulines Aufzeichnungen Fotos anzufertigen, die Seefelders
Mitarbeitern bereits vorlagen, bevor die Stiftung gegründet worden war.
Pauline war rasch der Arbeitsroutine überdrüssig geworden
und hatte dem beständigen Druck nicht recht standhalten können. Ihr
Lebensinhalt waren die einsamen Streifzüge in die Natur, die spirituelle
Auseinandersetzung mit den Wirkkräften der Pflanzenwelt, die Märkte, auf denen
sie Rat und Hilfe erteilen konnte, und die ihre Existenzgrundlage sicherten.
Seefelder hatte ihr schließlich fünfzigtausend Euro Abfindung angeboten, die
für ihn Peanuts und für Pauline ein Vermögen bedeuteten, mit dem sie den
heruntergekommenen Hof erhalten und sich einen Computer kaufen und den
Wissensfundus der Frauen ihrer Familie systematisch rekonstruieren konnte.
Valeries Motive für die Zusammenarbeit mit Seefelder
waren differenzierter gewesen. Eds Tod hatte sie der sorgenfreien Existenz
entrissen. Für Eds Ex-Ehefrau und für seine Tochter war sie der Feind, dem
nichts zugestanden und dem keine Gnade gewährt wurde. Sein Testament war
unmittelbar nach der Eröffnung angefochten worden und eine Legion von Anwälten
stritt ihr erbittert das Erbe und sogar den Besitzanspruch auf die Bastide ab.
Diese Entwicklung hatte sie befürchtet, wohingegen Eds Engagement für Pauline
nicht abschätzbar gewesen war. Die Erkenntnis reifte in dem Moment, als das
Mädchen Melissa ihr Paulines Aufzeichnungen zum Kauf anbot. Eds sorgsam
gehüteter Schatz. Seine Zukunftsplanung. Die Grundlage der Stiftung und, wie
sie erst lange Zeit später herausgefunden hatte, das notwendige Puzzleteilchen
in den komplizierten Patentverfahren, das es Seefelder ermöglichen würde, die
Rechte von SBT geltend zu machen.
Sie hatte instinktiv nach diesen Aufzeichnungen gegriffen
und Melissa die Pistole entrissen. Sie war sich aber immer noch ungewiss, ob
der Schuss dann tatsächlich ein Unglück gewesen, oder ob sie von ihren
Emotionen mitgerissen worden war und bewusst geschossen hatte.
Die Aufzeichnungen waren im Schließfach ihrer Bank in
Avignon sicher gewesen. Sicher vor Thomas Engler, sicher vor Christoph
Seefelder, sicher vor Alain, Pauline und der
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