Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grim - Das Erbe des Lichts

Grim - Das Erbe des Lichts

Titel: Grim - Das Erbe des Lichts
Autoren: Gesa Schwartz
Vom Netzwerk:
raste in den Bahnhof und in die gerade noch reglos dastehenden Wartenden kam Bewegung. Mia ließ sich auf einen Sitz am Fenster fallen und lehnte den Kopf gegen das kühle Glas. Die Gesichter der Toten flackerten ihr entgegen wie die Lichter, die draußen im Tunnel am Zug vorüberglitten. Sie hatte deren Bilder in Grims Büro gesehen, und sosehr sie bei dem Gedanken an die entsetzlichen Todesumstände schauderte, spürte sie doch vor allem die Erschütterung, die Trauer und den Schmerz, den die Angehörigen der Ermordeten fühlen mussten. Sie wusste, was es bedeutete, Menschen zu verlieren, die man liebte.
    Nachdenklich stieg sie in eine andere Linie der Metro um und wechselte dann noch einmal die Fahrtrichtung, ehe sie die Station Blanche im Viertel Montmartre erreichte. Eilig verließ sie die Tunnel des Metronetzes und lief schnellen Schrittes den Boulevard de Clichy hinab. Wenig später spürte sie die Stahlbrücke unter ihren Füßen, die den Cimetière de Montmartre überspannte und vom dahinrasenden Verkehr leicht vibrierte. Vor der Friedhofstür blieb sie stehen und schaute sich unauffällig um, doch keine Fußgänger waren auf der Straße. Sie zog ihr Werkzeug aus der Tasche, um die Tür zu öffnen, und hörte die Stimme ihres Bruders in sich widerhallen:
Ich brauche keine Hilfsmittel dazu.
Das hatte Jakob gesagt, als er vor etwa einem Jahr die Tore des Jardin des Plantes mit magischer Kraft geöffnet hatte. Mia holte tief Luft, als sie sich an die Arbeit machte. Auch sie selbst hätte das Schloss problemlos auf magische Weise brechen können, doch etwas in ihr wehrte sich dagegen. Das, was sie vorhatte, war ein Ritual, und das Knacken des Schlosses auf diese Weise gehörte dazu.
    Lautlos schob sie die Tür auf und huschte an den Reihen der Totenhäuser vorüber. Der alte Maurice war im vergangenen Winter in den Ruhestand gegangen, und der neue Nachtwächter tat kaum mehr als die vorgeschriebenen Schritte vor die Tür seines Kabuffs. Sie erinnerte sich lebhaft an die Nacht vor etwa einem Jahr, als das Abenteuer Anderwelt für sie begonnen hatte — die Nacht auf dem Friedhof, in der sie erstmals mit ihren Kreaturen in Kontakt gekommen war. Sie hatte sich gefürchtet, ja, sie hatte Todesangst gehabt. Noch immer spürte sie das Kribbeln in ihrem Nacken, als sie die Dunkelheit in manchen Totenhäusern sah, diese Finsternis, die scheinbar nur darauf wartete, einen vermodernden Arm herausschnellen zu lassen, um einer leichtsinnigen Sterblichen das Leben aus dem Leib zu pressen. Mia ließ einen Eiszauber in ihre linke Hand gleiten. Sie war nicht mehr das hilflose Mädchen, das sie vor einem Jahr gewesen war. Sie war eine Hartidin, eine Seherin des Möglichen, die in Magie unterwiesen wurde — und sie würde sich nicht von einem dahergelaufenen Knochenarm ins Reich der Toten entführen lassen.
    Sie erreichte die knorrige Eiche, auf deren Wurzeln noch das Wachs ihrer Kerzen klebte. Sie kam oft nachts an diesen Ort, hockte unter dem rauschenden Blätterdach und betrachtete das Grab ihres Vaters Lucas, seine Büste, die nie genau gleich aussah und mitunter einen Duft aus Ölfarben und Sommerwind verströmte — jene Gerüche, die ihrem Vater zu seinen Lebzeiten angehaftet hatten. Auch jetzt setzte sie sich unter die Eiche, betrachtete für einen Moment die Büste und senkte dann den Blick. Einmal im Jahr, zu seinem Todestag, zeichnete sie ein Bild von Lucas — genau so, wie er zu seinen Lebzeiten an ihrem Geburtstag ein Bild von ihr gemalt hatte.
Damit wir uns erinnern,
flüsterte seine Stimme durch die Bäume und ließ Mia schaudern. Doch in dieser Nacht war sie nicht wegen ihres Vaters gekommen Plötzlich spürte sie ihren Herzschlag stärker, der Wind umsäuselte sie mit geisterhaften Stimmen, und der Schnee, der über den Gräbern lag, schimmerte silbern, als würde er vom Mondlicht beschienen. Langsam zog sie den Zeichenblock aus ihrer Tasche und blätterte zu einer freien Seite. Dann hob sie den Kopf und betrachtete die Büste auf dem Grab ihres Bruders.
    Vor einem Jahr war Jakob verschwunden, hatte seinen Körper in dieser Welt getötet und seinen Geist mithilfe eines magischen Rituals in eine andere Welt versetzt, um eines Tages zurückkehren zu können. Sie erinnerte sich an die letzten Worte, die sie miteinander gewechselt hatten, als sie mit Grims Hilfe durch die Zwischenwelt gewandert war, um ihren Bruder noch einmal sehen zu können.
Kannst du zurückkommen?,
hatte sie ihn gefragt, und Jakob hatte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher