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Graveminder

Graveminder

Titel: Graveminder
Autoren: Melissa Marr
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schlug einen versöhnlicheren Ton an. »Hier. Brauchst du hier meine Unterstützung?«
    »Es tut mir leid, dass ich dir in diesem Moment nicht alle deine Fragen beantworten kann, aber …« William umfasste die Türklinke kaum wahrnehmbar fester. »Es gibt Regeln.«
    »Ich bin nach Hause gekommen«, sagte Byron. »Ich bin für dich da.«
    William nickte. »Ich weiß.«
    »Du wusstest, dass ich heimkommen würde.«
    Das war keine Frage, doch William antwortete trotzdem darauf. »Ja. Wir gehören nach Claysville, Byron. Es ist eine gute Stadt. Sicher. Hier kannst du eine Familie gründen und weißt, dass du und die Deinen in Sicherheit vor der Außenwelt sind.«
    »In Sicherheit?«, wiederholte Byron. »Maylene ist vor Kurzem ermordet worden.«
    Williams Züge wirkten einen Moment lang noch älter. »Das hätte nicht geschehen dürfen. Wenn ich gewusst hätte, wenn sie gewusst hätte …« Er blinzelte die Tränen weg, die er nicht mehr zurückhalten konnte. »So etwas geschieht hier nicht oft, Byron. Die Stadt ist sicher … im Gegensatz zu allen anderen Orten. Du bist dort gewesen. Du weißt Bescheid.«
    »Du redest, als läge außerhalb von Claysville eine andere Welt.«
    Williams Seufzer verriet, was er nicht in Worte fasste: Diese Gespräche zwischen ihnen, die sich im Kreis drehten, zermürbten ihn ebenso wie Byron. »Gib mir noch ein paar Tage Zeit, dann bekommst du deine Antworten. Wenn du … wenn du nur nicht so viele Fragen stellen würdest, Byron …«
    »Weißt du, was dagegen hilft? Antworten.« Kurz schloss Byron die Augen und sah dann seinen Vater an. »Ich brauche frische Luft.«
    William nickte und wandte sich ab – aber nicht so schnell, dass Byron der bedauernde Blick entgangen wäre. Er öffnete die Tür, trat hindurch und zog sie mit leisem Klicken zu.
    Byron drehte sich um und verließ das Bestattungsinstitut durch die Seitentür. Sein Triumph-Motorrad stand neben dem Haus unter einer hohen Weide. Von der Rückseite sah das Bestattungsinstitut aus wie die meisten Häuser im Viertel. Der Garten wurde von einem ausgeblichenen Holzzaun eingefasst, und auf einer überdachten langen Veranda standen zwei Schaukelstühle und eine Hollywoodschaukel. Azaleen, ein Kräutergarten und Blumenbeete – von seiner Mutter sorgfältig geplant und im Lauf der Jahre immer wieder verändert – gediehen wie zu ihren Lebzeiten. Die Eichen und Weiden sahen noch genauso aus wie in seiner Kindheit und beschatteten den Garten und einen Teil der Veranda. Inmitten dieser Normalität wies nichts darauf hin, dass im Innern des Gebäudes Tote auf ihre Bestattung vorbereitet wurden.
    Kies knirschte unter Byrons Stiefeln, als er das Motorrad einige Schritte weit schob. Noch immer fiel es ihm schwer, alte Gewohnheiten abzulegen, und das Aufheulen von Motorrädern vor dem Küchenfenster hatte seine Mutter immer gestört. Er schüttelte den Kopf. Manchmal wünschte er, sie träte aus der Tür und würde ihm eine Abreibung verpassen, weil er Schlamm ins Haus getragen oder wieder einmal wütend auf seinen Vater gewesen war und Kies verspritzt hatte. Aber die Toten kehrten nicht zurück.
    Als Junge hatte er daran geglaubt. Eines Nachts hätte er schwören können, Lily English auf der Veranda sitzen zu sehen, aber sein Vater hatte ihm den Mund verboten und ihn wieder ins Bett geschickt, während seine Mutter weinend am Küchentisch gesessen hatte. Einige Tage später hatte sie das ganze Blumenbeet umgegraben und neu bepflanzt, und Byron hatte vermutet, dass dieses viel zu enge Zusammenleben mit den Toten nicht nur ihm Halluzinationen und Albträume bescherte. Seine Eltern stritten nicht oft, aber er hätte ziemlich naiv sein müssen, um im Lauf der Jahre die Spannungen zwischen ihnen nicht zu bemerken. Sie hatten einander geliebt, aber die Stellung als Frau des Bestatters hatte ihren Tribut von seiner Mutter gefordert.
    Byron fädelte sich vorsichtig in den spärlichen Verkehr ein und schaltete. Der Wind traf ihn mit solcher Heftigkeit, dass er das Gefühl hatte, gegen eine Wand zu fahren. Die Vibrationen des Motors und die Biegungen der Straße versetzten ihn in eine Art Zen-Zustand, in dem er einfach nur existierte. Wenn er fuhr, dachte er an nichts – weder an Lily English noch an seine Mutter oder an Rebekkah.
    Nun gut, vielleicht doch an Rebekkah.
    Aber auch vor diesen Erinnerungen konnte er davonfahren. Wenn er schon nicht aus Claysville flüchtete, dann wollte er sich wenigstens eine kurze Weile ins Vergessen
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