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Graveminder

Graveminder

Titel: Graveminder
Autoren: Melissa Marr
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retten. Er beschleunigte bis zum Anschlag des Tachos und fegte so schnell durch die Kurven, dass er sich gefährlich schräg über das Straßenpflaster neigen musste. Es war nicht die Freiheit, doch die größte Annäherung an diesen Zustand, die er bisher entdeckt hatte.

4. Kapitel
    William stand in dem stillen Vorbereitungsraum. Auf dem Tisch vor ihm lag reglos Maylene. Sie war fort, das wusste er. Ihr Körper war nicht sie selbst, war nicht die Frau, die er fast sein ganzes Leben lang geliebt hatte.
    »Noch immer möchte ich dich nach deiner Meinung fragen. Mir graut davor, den nächsten Schritt ohne dich zu tun.« Er stand neben dem kalten Stahltisch, über den sie sich im Lauf der Jahre öfter, als er nachrechnen konnte, gemeinsam gebeugt hatten.
    »Bereust du es manchmal?« Sie stellte die Frage, ohne ihn anzusehen. Ihre Hand lag auf der Brust ihres Sohns. Jimmy war nicht gut mit dem Verlust seiner Familie fertiggeworden. Im Gegensatz zu seinen Eltern war er aus weicherem Holz geschnitzt. Maylene und James waren willensstark. Das mussten sie auch sein, um ihre Kinder großzuziehen und sich ein Leben aufzubauen.
    »Nein – nicht das, was wir tun.«
    Maylene löste den Blick von ihrem Sohn. »Tut es dir manchmal leid darum, was wir nicht getan haben?«
    »Mae … du weißt, dass dieses Gespräch keinem von uns hilft.« Er legte ihr einen Arm um die Schultern. »Als wir berufen wurden, waren wir bereits, was wir waren. Du warst schon verheiratet. Ich habe Annie getroffen. Ich habe sie geliebt, liebe sie immer noch.«
    »Manchmal frage ich mich … wenn ich nicht versucht hätte, mir ein so ganz anderes Leben aufzubauen als das, was wir hätten führen können …«
    »Nicht! Du und James, ihr hattet ein gutes Leben. Annie und ich ebenfalls.« Er zog Maylene nicht an sich. Als ihr inzwischen jahrzehntelanger Partner wusste er, dass er warten musste, bis sie seinen Trost annahm.
    »Mein Mann ist tot, meine Enkelin ist tot – und jetzt auch mein Sohn.« Tränen flossen ihr über die faltigen Züge. »Meine Cissy und meine beiden leiblichen Enkelinnen sind zornig auf die ganze Welt. Beks ist nicht Jimmys leibliche Tochter, aber sie gehört mittlerweile zur Familie. Zu mir. Ich habe nur noch sie.«
    »Und du hast mich. Ich werde bis zum Ende bei dir sein«, rief er ihr wie schon so oft ins Gedächtnis.
    Maylene wandte sich von ihrem toten Sohn ab und ließ sich von William in die Arme nehmen. »Ich will nicht, dass sie mich hasst, Liam. Keinesfalls. Sie darf es noch nicht erfahren. Sie ist nicht einmal hier geboren.«
    »Mae, wir werden zu alt, um damit weiterzumachen. Die Kinder sind erwachsen genug …«
    »Nein.« Sie löste sich von ihm. »Ich habe eine Tochter, die mich hasst, zwei Enkelinnen, die damit nicht fertigwürden, und Beks. Sie hat nur ein paar Jahre in Claysville gelebt. Ich lasse sie einstweilen in Ruhe. Byron möchte weggehen und ein wenig leben. Das weißt du genau. Lass den beiden noch etwas Zeit in der Außenwelt.«
    Und William tat, was er immer getan hatte, wenn Maylene etwas verlangte: Er stimmte zu. »Noch ein paar Jahre.«
    Nun stand er an derselben Stelle – nur dass sie dieses Mal keine andere Wahl mehr hatten. Byron musste es erfahren, Rebekkah ebenfalls. In den Jahren seit Jimmys Tod hatte William es oft genug vorgeschlagen, doch Maylene hatte stets abgelehnt.
    »Mir bleibt nichts anderes übrig, Mae.« Er betrachtete ihren leblosen Körper. »Hätte ich die beiden nur länger beschützen können! Hätte ich dich schützen können!«
    Das war nämlich die Krux an der Sache. Er hatte es nicht getan. Nachdem er ein halbes Leben lang an ihrer Seite gestanden hatte, waren sie beide nachlässig geworden. Nachdem sie so viel bewältigt hatte, war ihm beinahe nicht mehr bewusst gewesen, was geschehen könnte.
    Beinahe.
    Es konnte jeden Augenblick geschehen, und bis er seinen Sohn Mister D vorgestellt hatte, war die Stadt ungeschützt. Er empfand Abscheu bei dem Gedanken daran, was sie von Byron und Rebekkah verlangen mussten, aber es war allerhöchste Zeit.
    »Sie sind stark genug.« William strich Maylene mit den Fingern über die Wange. »Und sie wird dir verzeihen, Mae, genau wie wir unseren Vorgängern verziehen haben.«

5. Kapitel
    Als Byron in die Auffahrt von Maylenes Haus einbog und den Motor abschaltete, war er nicht überrascht, Chris an seinen Streifenwagen gelehnt zu sehen. Er war dem Sheriff vor einer Stunde auf der Straße begegnet und hatte sich gefragt, ob er einen
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