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Graues Land (German Edition)

Graues Land (German Edition)

Titel: Graues Land (German Edition)
Autoren: Michael Dissieux
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lässt uns beide zur selben Zeit herumwirbeln.
    »Verdammt ...«
    Noch ehe ich reagieren kann, greift Barry nach seinem Gewehr, das auf der Ladefläche des Wagens liegt, und reißt es hoch.
    »Warte«, brülle ich und ducke mich im selben Augenblick unter der Lautstärke meiner Stimme, mit der diese über den verwaisten Parkplatz rollt. »Sie ist ein Kind.«
    Barrys Gesicht hat die grimmige Entschlossenheit eines Jägers angenommen. Seine Wangenknochen stechen scharf unter der Haut hervor, die Augen sind zu schmalen Schlitzen verengt und die Lippen eine blutleere Linie.
    »Ein Kind?«
    Er wirft mir einen kurzen Blick zu, nicht ohne das Mädchen aus dem Visier zu entlassen. Dieses ist einige Meter von uns stehen geblieben und mustert Barry mit ausdruckslosen Augen.
    »Sie ist wie Alicia«, fährt er mit einem Zischen fort, das kaum ein Flüstern ist. »Sieh sie dir nur an.«
    Tatsächlich erinnert mich das Kind an Cindy Miller. Seine bleiche Haut spannt sich wie dünner Stoff über hervortretende Wangenknochen. Die geistlosen Augen liegen tief in den schwarz geränderten Höhlen. Das Haar hängt in dünnen, wirren Strähnen in ihr Gesicht. Auf groteske Weise werde ich an alte Aufnahmen aus Konzentrationslagern erinnert, auf denen sich Juden gegen den Zaun drängten und mit hoffnungslosen Augen in die Kamera blickten.
    An Hals und Schulter des Mädchens kann ich eine tiefe Wunde erkennen, deren Ränder sich schwarz verfärbt haben. Das Fleisch wirkt grau und trocken. Cindy hatte die gleichen Wundmale besessen. Und wenn ich Dannys Worten Glauben schenken darf, dann stammten die Wunden bei seiner Frau von einer jener Kreaturen, die in der Nacht durch das Land streichen. Und hatte Danny nicht auch gesagt, dass Cindy tot gewesen sei und sich nach einiger Zeit dennoch wieder erhoben hatte?
    »Nimm das Gewehr runter«, flüstere ich Barry zu und lasse das Mädchen nicht aus den Augen.
    War sie womöglich ebenfalls wieder auferstanden, so wie es Cindy getan hatte? Und mit Sicherheit auch Alicia. Oder war sie nur ebenso verwirrt und verängstigt wie wir?
    Das Mädchen starrt unentwegt auf den Lauf der Waffe. Sie legt den Kopf zur Seite, als versuchte sie zu verstehen, was Barry tut. Ein brauner Speichelfaden rinnt ihr über die Lippen und tropft von ihrem Kinn.
    Dann beginnt sie zu kichern.
    Ein Geräusch, das sich wie das Klirren von Ketten anhört. Sie hebt die dürren, mit schwarzen Flecken übersäten Arme, greift mit den Händen in ihr Spinnweben ähnliches Haar und reißt sich zwei Strähnen aus. Achtlos lässt sie diese fallen. Ich sehe angewidert und fasziniert zugleich zu, wie der Wind die Haare erfasst und über den Parkplatz davonweht.
    »Was willst du hier?«, zischt Barry.
    In seiner Stimme lauert Zorn. Mir ist nur allzu deutlich bewusst, dass er in dem Kind Alicia sieht, die ihm Shelley auf derart grausame Weise genommen hat.
    Das Mädchen kichert, blickt jetzt aber Barry an. Der Mund des Kindes legt schwarze Zahnstümpfe frei. Eine graue Zunge leckt lasziv über die spröden Lippen.
    »Ich will dich«, krächzt das Mädchen und macht einen schwerfälligen Schritt auf Barry zu.
    Dieser weicht unwillkürlich zurück, bis ihn die Seite des Pick-ups bremst.
    »Nichts zu fressen ...«
    Die Worte des Dings sind kaum zu verstehen. Speichelbläschen bilden sich auf den Lippen des Kindes.
    »... ich will dich ... dein Fleisch ...«
    Sie hebt die Arme und greift mit grauen Fingern, unter deren schmutzigen Nägeln immer noch einige Haare kleben, ins Leere.
    Lethargisch beginnt sie einen Fuß vor den anderen zu setzen. Dabei schlurft ein zerschlissener Sportschuh über den Asphalt. Der andere Fuß ist nackt und wund.
    Ihre Beine erzittern bei jedem Schritt, unfähig das Gewicht ihres ausgezehrten Körpers zu tragen.
    »Bleib stehen«, stöhnt Barry zwischen zusammengepressten Lippen hervor.
    Ich betrachte ungläubig die Szene, die so surreal wirkt, dass sie eine besonders schreckliche Komödie in einem billigen Theater hätte sein können.
    Mit grauenvoller Deutlichkeit sehe ich die Schweißperlen auf Barrys Stirn und wie sie an den Schläfen hinablaufen. Seine Mundwinkel zucken, als weigere sich sein Verstand, die bizarre Szenerie zu akzeptieren. Der schmutzige Finger seiner Hand legt sich um den Abzug des Gewehrs, seine entsetzten Augen starren über Kimme und Korn auf das Ding , das einmal ein hübsches Mädchen gewesen sein muss.
    »Bleib stehen, verdammt.«
    Das Kichern des Mädchens hört sich in der Stille
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