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Granger Ann - Varady - 03

Titel: Granger Ann - Varady - 03
Autoren: Die wahren Bilder seiner Furcht
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ältere Herr schnaufte ein wenig und sagte dann:
»Wissen Sie, meine Liebe, Sie sollten wirklich nicht …«
Doch er beendete seinen Satz nicht, weil er keine Ahnung
hatte, was er sagen sollte. Er wandte sich ab und eilte weiter,
unglücklich und voll aufkeimenden Ärgers, weil er sich so
bereitwillig von seiner Fünf-Pfund-Note getrennt hatte.
Ich näherte mich vorsichtig dem Eingang. Irgendetwas an
der Stimme hatte eine Erinnerung in mir geweckt. Ich spähte hinein.
Sie war nass, fror und sah erbärmlich aus, abgemagert bis
auf die Knochen. Kein Wunder, dass der alte Bursche sich
erbarmt hatte. Der Regen hatte ihr blondes Haar durchnässt, sodass es am Kopf klebte. Ihre Augen waren riesig
und tragisch in einem Gesicht, dessen bleicher, matter Teint
die Heroinsucht verriet.
»Hallo Tig«, sagte ich. Ich hätte sie wohl kaum wiedererkannt, wenn ich nicht zuerst ihre Stimme gehört hätte, so
sehr hatte sie sich seit unserer letzten Begegnung verändert.
Sie zuckte zusammen, und ihre Augen blitzten in den
verwahrlosten Gesichtszügen. Ich befürchtete schon, sie
würde sich jeden Moment auf mich stürzen.
»Ganz ruhig!«, sagte ich hastig. Gerade die zerbrechlich
Aussehenden können einem manchmal ziemlich zusetzen.
»Ich bin es, Fran, erinnerst du dich nicht?«
Ich hatte sie fast ein Jahr lang nicht mehr gesehen. Sie
hatte kurz bei uns in der Jubilee Street gewohnt, als wir das
Haus dort besetzt gehalten hatten. Ich hatte sie so gut kennen gelernt, wie das in einer solchen Umgebung eben möglich ist, was so viel heißt wie, ich hatte nicht mehr über sie
erfahren, als sie freiwillig mitgeteilt hatte. Sie war nicht lange geblieben, eine Woche, vielleicht zwei, und hatte keine
Probleme gemacht. Eine fröhliche, pummelige, unbekümmerte Fünfzehnjährige, die noch nicht lange in London war.
Sie stammte von irgendwo aus den Midlands. Sie war, wie
sie erzählt hatte, wegen irgendeines Familienstreits von zu
Hause weggegangen, die alte Geschichte. Wir hatten sie
vermisst, als sie weitergezogen war, andererseits hatte ich
nicht erwartet, dass sie länger bleiben würde. Damals hatte
ich das Gefühl gehabt, sie wollte ihren Eltern einen Schrecken einjagen, ihnen irgendein tatsächliches oder eingebildetes Unrecht heimzahlen. Sobald sie der Meinung war,
ihr Ziel erreicht zu haben, würde sie wieder nach Hause
zurückkehren. Hätte man mich gefragt, ich würde gesagt
haben, dass sie inzwischen wahrscheinlich längst wieder in
den Schoß ihrer Familie zurückgekehrt wäre, nachdem Kälte, Hunger und Gewalt auf den Straßen nicht länger nach
Abenteuer klangen und stattdessen real und beängstigend
waren.
Doch ich hatte mich eindeutig getäuscht. Ihre Veränderung schockierte mich zutiefst, auch wenn ich schon früher
Mädchen wie Tig begegnet war. Sie kamen von außerhalb in
die Stadt, voller Optimismus, obwohl mir beim besten Willen kein Grund dafür einfallen wollte. Was glaubten sie eigentlich, was sie in London finden würden? Außer einer riesigen Ansammlung von Leuten wie sie selbst, die kein Zuhause mehr hatten und nicht wussten wohin, und ganzen
Rudeln von Haien, die nur darauf warteten, sich auf sie zu
stürzen? Wenn sie Glück hatten, lernten sie ihre Lektion
schnell und vergaßen sie nicht wieder. Wenn nicht, bekamen sie es zu spüren.
Eine Sache an Tig war mir aus der Zeit in der Jubilee
Street wirklich in Erinnerung geblieben: Sie hatte sich nach
jeder Mahlzeit die Zähne geputzt, selbst wenn sie keine
Zahnpasta hatte. Es gibt eine Menge Leute, die glauben,
Obdachlosigkeit wäre gleichbedeutend mit Schmutzigsein.
Doch das stimmt nicht. Ganz gleich, wie groß die tatsächlichen Schwierigkeiten auch sein mögen, Obdachlose bemühen sich um Sauberkeit. Sauberkeit bedeutete, dass man
noch immer kämpfte, dass man sich noch nicht in sein
Schicksal gefügt hatte. Man achtete noch immer auf sein
Äußeres, selbst wenn andere einen abgeschrieben hatten.
Wenn eine Katze aufhört sich zu lecken, dann weiß man,
dass sie krank ist. Bei Menschen ist das nicht anders. Auch
bei ihnen ist Verwahrlosung ein Anzeichen von Krankheit,
entweder körperlicher oder seelischer. Die seelische Krankheit ist von beiden die schwieriger zu behandelnde. Während ich nun Tig vor mir sah, fragte ich mich, an welcher
Krankheit sie wohl litt.
In unserem besetzten Haus in der Jubilee Street hatten
wir eine Regel gehabt: keine Drogen, und wenn sie es damals schon gemacht hatte, dann hatte sie es sehr gut verborgen. Doch
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