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Graciana - Das Rätsel der Perle

Graciana - Das Rätsel der Perle

Titel: Graciana - Das Rätsel der Perle
Autoren: Marie Cordonnier
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sein.
    »Ich komme«, rief sie und trat in das schattige Halbdunkel der Treppe.
    Ihrer ungewöhnlichen Größe wegen musste sie den Kopf einziehen, damit die Spitzen ihrer Haube nicht gegen die Schlusssteine streiften. Es verlieh ihr eine fromme Haltung, die in krassem Gegensatz zum rebellischen Feuer ihrer Augen stand. Mutter Elissa entdeckte eine verhängnisvolle Ähnlichkeit in ihren Zügen, auf die sie ausgerechnet in diesem Moment gerne verzichtet hätte.
    Gracianas suchender Blick glitt vorwitzig durch den kleinen, unterirdischen Saal. Sie entdeckte weder die Werkzeugkiste noch das fabelhafte Kreuz, das sie vorher so wenig hatte übersehen können. Es kam ihr vor wie ein Spuk. Unwillkürlich heftete sie ihre Augen auf das Gesicht der Äbtissin, die ihr, seit sie denken konnte, einziges Maß aller Dinge gewesen war. Im Kloster zur Welt gekommen und aufgewachsen, hatte sie gelernt, ihren Befehlen und Wünschen unbedingten Gehorsam zu leisten.
    »Ich hätte mir gewünscht, nie wieder davon sprechen zu müssen«, begann die betagte Nonne unerwartet und machte eine Geste, als suche sie nach Halt an einer anderen Hand. »Aber ich denke, es ist besser, ich gebe dir mein Wissen mit auf den Weg, ehe ...«
    »Welchen Weg?«, unterbrach Graciana verwirrt und vergaß einmal mehr, dass es sich nicht gehörte, die Äbtissin zu unterbrechen.
    Doch der übliche Tadel blieb in diesem Moment aus. Ein Anflug von Ungeduld zeigte sich auf der Miene der Ordensfrau, dann sprach sie mit betont unpersönlicher Stimme weiter.
    »Uns beide verbindet mehr als nur die Gemeinsamkeit des frommen Lebens hinter diesen Mauern, Kind. Hast du den Namen Paskal Cocherel schon einmal gehört?«
    »Natürlich. Wer hat das nicht ...«, murmelte Graciana verblüfft.
    Sogar in der stillen Besinnlichkeit von Sainte Anne sprach man über die Greueltaten des Söldnerführers, der sich selbstherrlich Herzog von St. Cado nannte, weil seine Burg diesen Namen trug, und nicht weil er aus edlem Geblüt kam. In den verheerenden Erbfolgekriegen, welche die Bretagne seit Jahren verwüsteten, verkaufte er seine Männer an jeden, der genügend Gold dafür aufbringen konnte, aber im Grunde ging es ihm nur darum, die eigene Macht zu stärken.
    »Dieser Schurke hat schon vor fünfundzwanzig Jahren das Leben eines räuberischen Bastards geführt«, zischte die Äbtissin, und ihre Zuhörerin zuckte sowohl vor der Ausdrucksweise wie dem Hass in der Stimme Elissas zusammen. »Er nahm sich, was ihm gefiel, ohne Rücksicht auf ritterliche Ehre oder christliches Gewissen. Als ihm ein edles, junges Mädchen aus bester Familie ins Auge stach, überfiel er kurz vor ihrer Hochzeit die Burg ihres Vaters und metzelte alle Bewohner nieder. Dann vergewaltigte er das arme Kind und schickte es fort, als es ihn langweilte. Er hatte ihm die Heimat, die Eltern, den Bräutigam, die Schönheit und das Glück geraubt, aber es kümmerte ihn nicht.«
    Mutter Elissa machte eine Pause, und dieses Mal unterbrach die Novizin sie mit keiner Silbe. Graciana lauschte dem Schlag ihres eigenen Herzens und versuchte die Furcht unter Kontrolle zu bekommen, die sie bei dieser Erzählung beschlichen hatte.
    »Das Edelfräulein, von dem ich spreche, hieß Graciana de Cesson«, sprach die Ordensfrau hastig weiter. Sie schien zu spüren, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb. »Sie war die einzige Tochter des Herrn von Cesson und einem Ritter des Herzogs von Montfort versprochen – und sie war meine geliebte Nichte. Das einzige, sanfte und fromme Kind meiner Schwester. Von Paskal Cocherel verstoßen, suchte sie Zuflucht in meinem Kloster. Hier brachte sie ihr Kind zur Welt, und hier stürzte sie sich von der höchsten Zinne des Glockenturmes in den Tod, sobald ihre Beine sie die Treppe hinauf zu tragen vermochten. Sie konnte die Schande ihres Schicksales nicht länger ertragen ...«
    Graciana schluckte trocken. In einem Atemzug eine Mutter zu bekommen und sie ebenso schnell wieder zu verlieren raubte ihr die Fassung.
    »Aber ... man hat mir stets gesagt, ich sei ein Findelkind, das die Nonnen vor der Klosterpforte gefunden haben?«, flüsterte sie.
    »Es schien mir vernünftiger, dich nicht mit der Last vergangener Sünden zu beschweren.« Die Äbtissin seufzte. »Und ich wäre diesem Entschluss nie untreu geworden, wenn du bereits dein Gelübde abgelegt hättest. Wir sind alle Kinder des einen allmächtigen Gottes, und deine Gebete hätten sicher dazu beigetragen, deine arme Mutter aus dem Fegefeuer zu
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