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Grabkammer

Grabkammer

Titel: Grabkammer
Autoren: Tess Gerritsen
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Juni, am Ende meines vorletzten Studienjahrs, bestieg ich schließlich die Maschine nach Kairo.
    Noch heute, in der Dunkelheit meines Schlafzimmers in Kalifornien, erinnere ich mich, wie meine Augen vom grellen Sonnenlicht schmerzten, das der weiß glühende Sand reflektierte.
    Ich rieche die Sonnencreme auf meiner Haut und spüre das Prickeln der Sandkörner, die der Wind mir ins Gesicht weht. Diese Erinnerungen machen mich glücklich. Die Schaufel in der Hand und die Sonne auf den Schultern es war die Erfüllung der Träume eines jungen Mädchens.
    Wie schnell doch ein Traum zum Albtraum werden kann.
    Als glückliche Studentin bestieg ich das Flugzeug nach Kairo.
    Drei Monate später kehrte ich zurück, und ich war nicht mehr dieselbe Frau.
    Ich kam nicht allein aus der Wüste zurück. Ein Monster folgte mir.
     
    Im Dunkeln schlage ich jäh die Augen auf. Waren das Schritte? Hat da eine Tür geknarrt? Ich liege auf den feuchten Laken, und mein Herz schlägt wild gegen meine Rippen. Ich wage nicht aufzustehen, und ich wage nicht, im Bett zu bleiben.
    Irgendetwas stimmt nicht in diesem Haus.
    Nach Jahren des Versteckspielens bin ich klug genug, die Warnungen nicht zu ignorieren, die mir die Stimme in meinem Kopf zuraunt. Nur diesen eindringlichen Einflüsterungen habe ich es zu verdanken, dass ich noch am Leben bin. Ich habe gelernt, jede Abweichung vom Gewohnten zu registrieren, jede noch so kleine Störung. Ich merke auf, wenn ein unbekanntes Auto durch meine Straße fährt. Ich bin sofort hellwach, wenn eine Kollegin erwähnt, dass jemand nach mir gefragt habe. Ich lege mir ausgeklügelte Fluchtpläne zurecht, lange bevor ich sie tatsächlich brauche. Mein nächster Schritt ist bereits geplant. In zwei Stunden können meine Tochter und ich über die mexikanische Grenze sein, ausgestattet mit neuen Identitäten. Unsere Pässe mit den neuen Namen stecken schon in einer Seitentasche meines Koffers.
    Wir hätten schon längst aufbrechen sollen. Wir hätten nicht so lange warten dürfen.
    Aber wie überredet man ein vierzehn jähriges Mädchen, alle seine Freunde zurückzulassen? Tari ist das Problem; sie begreift nicht, in welcher Gefahr wir schweben.
    Ich öffne die Nachttischschublade und nehme die Pistole heraus. Sie ist nicht registriert, und es macht mich nervös, eine Schusswaffe im selben Haus zu haben, in dem ich mit meiner Tochter lebe. Aber nach sechs Wochenenden auf dem Schießstand kann ich immerhin mit dem Ding umgehen.
    Meine nackten Füße machen kein Geräusch, als ich mich aus dem Zimmer schleiche und den Flur entlanggehe, an der geschlossenen Tür meiner Tochter vorbei. Ich mache den gleichen Kontrollgang, den ich schon tausendmal gemacht habe.
    Wie jede gejagte Kreatur fühle ich mich im Dunkeln am sichersten.
    In der Küche kontrolliere ich die Fenster und die Tür.
    Ebenso im Wohnzimmer. Alles ist gesichert. Ich gehe zurück in den Flur und halte vor dem Zimmer meiner Tochter inne.
    Tari ist in letzter Zeit geradezu fanatisch auf ihre Privatsphäre bedacht, aber an ihrer Tür ist kein Schloss, und ich werde auch nie zulassen, dass sie eines bekommt. Ich muss jederzeit einen Blick in ihr Zimmer werfen können, um mich zu vergewissern, dass sie wohlauf ist.
    Die Tür knarrt laut, als ich sie öffne, aber das Geräusch wird Tari nicht wecken. Wie bei den meisten Teenagern gleicht ihr Schlaf einem Koma. Das Erste, was ich bemerke, ist der Luftzug, und ich seufze resigniert. Wieder einmal hat Tari meine Wünsche ignoriert und ihr Fenster offen gelassen, wie schon so oft.
    Ich habe das Gefühl, ein Sakrileg zu begehen, wenn ich die Waffe in Taris Zimmer mitnehme, aber ich muss dieses Fenster schließen. Ich trete ein und bleibe neben dem Bett stehen, um ihr beim Schlafen zuzusehen und auf den stetigen Rhythmus ihres Atems zu lauschen. Ich erinnere mich an den Moment, als ich sie zum ersten Mal erblickte, im Arm der Hebamme, schreiend und mit rotem Gesicht. Ich hatte achtzehn Stunden in den Wehen gelegen und war so erschöpft, dass ich kaum den Kopf vom Kissen heben konnte. Aber nachdem ich einen Blick auf mein Baby geworfen hatte, wäre ich aus dem Bett aufgesprungen und hätte sie gegen eine ganze Legion von Angreifern verteidigt. In diesem Moment wusste ich, wie ich sie nennen würde. Ich dachte an die Worte, die in den großen Tempel von Abu Simbel eingraviert sind, die Worte, die Ramses der Große wählte, um seiner Liebe zu seiner Frau Ausdruck zu verleihen: Nefertari, um deretwillen die Sonne
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